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Die Blütenfrau

Die Blütenfrau

Titel: Die Blütenfrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Lüpkes
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ich eben kommen.» Sie stieg vom Fahrrad, stellte es auf den Ständer und ging auf den Baum zu. Der Stamm hatte einen Durchmesser von über einem Meter, wurzelte direkt vor ihr im festen Boden und endete weit oben in einem Dach aus Ästen.
    Es war seltsam, sie hörte nichts, kein Atmen und kein Knacken von Zweigen. Hatte sie sich die Stimme vielleicht nur eingebildet? Griet schaute sich kurz um. Es war kein Mensch zu sehen, nicht einmal die Penner, die sonst immer in der Nähe der Apotheke saßen und Dosenbier tranken. Auch keine Oma mit Hund oder Gehhilfe und kein Oberspießer mit Rad auf dem Weg in den frühen Feierabend. Niemand. Nur der Bulli, der zwanzig Meter weiter auf der Straße stand, fiel Griet jetzt ins Auge. Er parkte entgegen der Fahrtrichtung und war kaum zu erkennen durch das dichte Buschwerk, aber zu hören. Der Motor lief.
    «Griet?»
    Sie hatte sich nicht getäuscht, jemand rief ihren Namen. Aber die Stimme kam nicht aus der Richtung des Baumes. Gott, wie lächerlich sie aussehen musste. Griet begutachtete den Stamm und schaute verstohlen herum, doch hier war tatsächlich keine Menschenseele. Samael musste sich hinter dem Rhododendronstrauch versteckt haben. Ja, jetzt sah sie den Stoff eines weißen Hemdes oder T-Shirts durch die dunkelgrünen, dichten Blätter schimmern.
    «Was soll denn das Theater? Vergiss es!» Nein, sie würde nicht dorthin gehen, das war zu albern. Dann würde er sicher wieder irgendeinen Scherz machen und sie erneut albern aussehen lassen.
    «Das ist ein blödes Spiel. Ich fahre jetzt weiter. Meine Mutter wartet mit dem Essen.»
    Trotzdem machte sie einen Schritt zum Busch und kniffdie Augen zusammen, um etwas zu erkennen. Warum machte er so einen Scheiß? Das passte gar nicht zu ihm. Auf dem Radweg kam jetzt eine Frau im Sommerkleid mit ihrem kleinen Sohn im Kindersitz auf sie zu. Sie klingelte zweimal, und Griet wich nach vorn aus.
    «Entschuldigung.»
    Dann trat sie näher an die Hecke heran. Das war kein Stoff dort im Gebüsch. Jetzt erkannte sie es. Es war Plastik, eine weiße Tüte, so eine, die man kostenlos beim Einkaufen in kleineren Läden bekam, raschelig, dünn und ohne Werbelogo. Die Tüte blähte sich auf, als wäre sie von einer plötzlichen Sturmböe erfasst worden. Doch sie bewegte sich verkehrt herum, kam mit der Öffnung auf sie zu. Griet blickte in das Innere dieses kleinen Ballons. Dann ging alles sehr schnell, viel zu schnell. Als sie erkannte, dass nicht der Wind, sondern eine Männerhand die Tüte steuerte, blieb keine Sekunde mehr, um davonzurennen. Sie konnte noch nicht einmal ein Gesicht oder eine Gestalt hinter dem Plastik erkennen. Aber wenn sie sich nicht völlig täuschte, trug der Mann etwas über dem Gesicht und hatte sich eine Schirmmütze tief über die Augen gezogen. Es konnte Samael sein, aber auch so ziemlich jeder andere Mann auf der Welt. Und eines wusste Griet sofort, denn da gab es definitiv nichts misszuverstehen: Das hier war kein Spiel mehr. Das hier hatte überhaupt nichts zu tun mit dem, was sie sonst erlebte, wenn sie sich am alten Friedhof mit ihm traf. Das hier war ernst. Todernst.
    «Hör auf! Verdammt nochmal, hör auf damit!»
    Sie versuchte, einen Arm zu fassen zu kriegen und sich diese Tüte vom Kopf zu reißen. Gleichzeitig trat sie um sich, kickte ihre schweren Stiefel in alle Richtungen, mit voller Wucht, doch sie traf nichts, sondern stampfte ins Leere. Durch ihre Zappelei wurde sie nur wehrloser.
    «Bitte nicht, lass mich gehen. Ich will das nicht   …» Bei jedem Wort, das sie sprach, sammelte sich ihr feuchter Atem vor den Lippen. Wenn sie Luft holte, war es, als sauge sie ihre eigenen Sätze wieder ein. Ihr wurde schwindelig. Man darf Tüten nicht über den Kopf ziehen!, wusste Griet. Das ist etwas, was man schon als ganz kleines Kind lernt. Man kann daran sterben!
    War es das, was er gemeint hatte, als er ihr versprach, er wolle sie holen, sobald die Zeit dafür gekommen war?
    Sie schwankte. Irgendwie roch es auch komisch in dieser Tüte. Nach Chemie. Klebstoff oder Farbe oder so. Aber ihr Kopf war bereits zu schwer, um etwas zu erkennen, ihr Gehirn funktionierte nur noch in Zeitlupe.
    Sie spürte, wie sich ein Arm um ihren Nacken legte, ein anderer schob sich in die Kniekehlen. Ihr Körper gab nach, und sie legte sich einfach hin. Oder fing er sie auf?
    Geh nie mit Fremden mit, mein Kind, hörte sie die Stimme ihrer Mutter.
    Ich gehe doch nicht, ich werde getragen.
    Brachte Samael sie nun in diese andere

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