Die Blütenfrau
Spiekeroog. Er ist einschlägig vorbestraft wegen Tierquälerei, und wir vermuten, dass er eine psychische Störung hat, die sich auch in sexueller Hinsicht bemerkbar machen könnte.»
«Solche Menschen haben wir hier auf Spiekeroog nicht», erklärte Brockelsen daraufhin. Wencke und Axel trauten ihren Ohren nicht. Wahrscheinlich reagierten sie mit identischem Gesichtsausdruck auf diesen Satz, denn schnell fügte der Insel-Sheriff hinzu: «Zumindest nicht, dass ich wüsste.»
«Kennen Sie Hanno Thedinga?»
«Nein, nie gehört.»
«Er arbeitet als Kellner im Hotel Inselnest.»
«Ach, ein Angestellter. Na dann …»
«Was wollen Sie damit sagen?»
«Wissen Sie, ich mache seit zwanzig Jahren hier meinen Dienst. Und wenn es mal Ärger gibt, so ein bisschen Drogensachen oder Diebstahl oder kleine Kneipenschlägereien, dann sind das meistens die jungen Leute vom Festland, die von März bis Oktober zum Arbeiten nach Spiekeroog kommen. Viel Stress, wenig Freizeit und noch weniger Platz, um sich aus dem Weg zu gehen. So ist das hier.» Er rieb sich diensteifrig die Hände. «Und wenn dann einer dabei ist, der schon von Haus aus eine kleine Klatsche hat …»
Wencke setzte sich aufrecht hin. «Wir haben nicht genug in der Hand, um ihn sofort festzunehmen. Aber wir könnten Thedinga unter dem Vorwand vernehmen, ihn in unserem Mordfall befragen zu wollen.»
«Hm», machte Brockelsen. Er schien wenig überzeugt. «Eigentlich wollte ich ja weiter nach Marina suchen.»
Axel schaute auf die Uhr. «Es ist schon halb sechs.»
Klar, dachte Wencke, Axel drängte auf Tempo, um in zwei Stunden die letzte Fähre zum Festland nehmen zu können. War seine Sehnsucht nach Kerstin denn wirklich so groß?
Wencke beugte sich vor und schaute Brockelsen in die Augen. «Wir gehen jetzt gemeinsam zum Hotel Inselnest und sprechen mit Hanno Thedinga. Falls wir recht haben und die beiden Fälle etwas miteinander zu tun haben, dann werden Sie ja bald erfahren, wo Ihre vermisste Schülerin steckt.»
«Und wenn nicht?»
«Sollten wir tatsächlich mit unserem Verdacht danebenliegen und die falsche Spur verfolgt haben, verspreche ich Ihnen, wir suchen mit nach Marina. Wenn es sein muss, die ganze Nacht.»
Axel hustete, doch Wencke nahm davon keine Notiz. «Ist es weit bis zum Hotel?»
«Hier gibt es keine weiten Wege», antwortete Brockelsen, erhob sich und hielt die Tür auf.
Tatsächlich befand sich das Hotel Inselnest nur zwei Ecken weiter. Sie waren auf dem Hinweg schon an dem roten Giebelhaus mit der grün-weißen Holzveranda vorbeigekommen, im Vorgarten standen Stühle und Tische, alle Plätze waren besetzt, aber kein Kellner zu sehen.
«Soll ich Meyerhoff holen? Den Hotelbesitzer? Ich kenne ihn, wir sind per Du.»
Wencke wusste, dass dies nicht viel zu bedeuten hatte. Auf den Inseln nannten sich alle beim Vornamen. Genau wie jeder von jedem alles wusste. Umso erstaunlicher fand sie es, dass der Dorfpolizist noch nicht über den Namen Hanno Thedinga gestolpert war. Hatte sich der Mann bislang trotz seiner Triebe unsichtbar gemacht?
Brockelsen handelte schneller, als Wencke verantworten konnte. Er ging durch eine offene Seitentür ins Lokal und tauchte Sekunden später mit gewichtigem Gesichtsausdruck wieder vor ihnen auf. «Meyerhoff sagt, dieser Thedinga arbeitet normalerweise im Service, aber heute habe er sich nach seiner Mittagspause plötzlich krank gemeldet. Wegen einer Verletzung am Handgelenk. Er kann sich allerdings nicht vorstellen, dass sein Oberkellner etwas mit den beiden Fällen zu tun hat.»
So lief das hier also, dachte Wencke. Diskretion war anscheinend ein Fremdwort auf der Insel. Das grenzte bereits haarscharf an eine Verletzung der Persönlichkeitsrechte. Sollten sie Hanno Thedinga zu Unrecht verdächtigen, dann wäre hier wahrscheinlich schon zu viel gesagt worden. Wencke schob den Gedanken zur Seite. Nein, sie lagen richtig, sie waren nicht ohne guten Grund hier. Alles passte zusammen,und der Mann mit dem verletzten Handgelenk war der, den sie suchten.
«Aber der Chef des Hauses will mal bei den Personalräumen nachschauen, ob Thedinga dort ist. Er wusste bereits, dass sich die Kripo für ihn interessiert. Heute Morgen hat wohl schon mal jemand von der Polizei angerufen …»
«Das war ich», sagte Axel. «Wir wollten eine Aussage abgleichen. Da wussten wir aber noch nichts von seinen Vorstrafen.»
«So, und nun fühlen Sie sich schlauer, oder was?» Brockelsens Frage klang beinahe provozierend.
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