Die Blütenfrau
gehen. Wohin auch immer. Gern hätte sie geglaubt, dass ein neues Ziel schon gesteckt und die Frage nach dem Wohin bereits beantwortet war. Aber Wencke sah nur ein großes Fragezeichen, wenn sie an die Zukunft dachte. Sonst nichts.
Also der Reihe nach: Erst einmal musste sie die Fragen indiesem Fall sortieren und sie, soweit es möglich war, beantworten.
Marina Kobitzki, deren Leiche sie und Axel am Ententeich für einen kurzen Moment hatten in Augenschein nehmen dürfen, war offensichtlich an inneren Blutungen gestorben, die ebenfalls durch Blutegel ausgelöst worden waren. Eine widerliche Methode. Einfach unvorstellbar. Was hatte den Täter dazu veranlasst, seine Opfer auf diese Weise zu töten? Was wollte er damit bezwecken?
Die Alternativmediziner setzten Egel zur Heilung ein. Und der Mädchenmörder nutzte die Blutsauger zum Töten. Oder war das ein Trugschluss? Was, wenn der Täter ebenfalls so etwas wie eine Linderung von Leiden hervorrufen wollte?
Wenckes Kopfschmerz war allgegenwärtig, er hielt sie vom Schlafen ab, er ließ sie taumeln, er bremste ihre Gedanken und machte sie blind und taub. Sie war nur noch ein einziger Schmerz. Wenn es doch nur eine Öffnung gäbe, eine Art Abfluss im Kopf, wo das Zuviel in ihr heraustropfen könnte! Das wäre wunderbar. Eine Wohltat, zumindest in der Vorstellung.
Druck ablassen … War es vielleicht das, was auch den Täter antrieb? Wollte er eine innere Spannung lösen? Hatte er die Mädchen dazu benutzt, seinen eigenen Druck loszuwerden? Als Stellvertreter sozusagen. Weil er selbst zu feige war, den inneren Druck zu bekämpfen. Vielleicht fügte er auch sich selbst Verletzungen zu, im kleinen und harmlosen Ausmaß natürlich nur. Ein Mensch mit ausgeprägter Persönlichkeitsstörung. Voller Wut, die er gegen sich selbst oder andere richtete. Dann suchten sie einen Borderliner. Auch Axel hatte diesen Begriff aus der Psychiatrie heute fallen lassen.
Die Charakterisierung passte hervorragend zu HannoThedinga: Die Narben an seinen Armen erzählten ohnehin eine eigene Geschichte, und sein Lebenslauf hätte als Schablone für traumatische Schicksale verwendet werden können.
Aber passte die Beschreibung auch auf Gernot Huckler? Niemand, der ihn kannte, hatte jemals Selbstverletzungen erwähnt. Auch schien er nichts Brutales an sich zu haben, sah man von seiner sexuellen Neigung einmal ab, die zwangsläufig eine subtile Gewaltebene beinhaltete.
Dr. Erb hatte in seinem Vortrag behauptet, dass Gernot Huckler die Ermordung seiner Opfer nicht zuzutrauen wäre – und schon gar nicht auf eine Tötungsart wie die vorliegende. Das hatte einleuchtend geklungen. Huckler hatte seine damaligen Opfer ja gekannt, sie hatten so etwas wie ein Vertrauensverhältnis zueinander aufgebaut. Was war es denn, das Huckler bei den Minderjährigen suchte? Nähe wahrscheinlich, ein bisschen Liebe, körperliche Befriedigung, Hingabe. Alles Dinge, die er von gleichaltrigen Frauen damals nicht bekommen konnte. Bei den beiden Mädchen, mit denen er zelten gegangen war, war er sich sicher gewesen, der Stärkere zu sein. Deswegen hatte er auch den Mut gehabt, seine Wünsche auszuleben. Nichts gab es da zu entschuldigen oder zu verharmlosen, Gernot Huckler hatte zwei Kinderseelen zerstört. Aber was er damals in seiner Heimat getan hatte, war etwas anderes als das, was man ihm nun anlasten wollte. Diese Verbrechen trugen eine andere Handschrift. Sicher, irgendwie war es schon verlockend, alle derart gelagerten Taten über einen Kamm zu scheren. Wencke zweifelte jedoch, ob diese Gleichfärberei von Nutzen war, wenn es – wie in diesem Fall – darauf ankam, die feinen Nuancen, die individuellen Schattierungen der Taten zu erkennen.
Gernot Huckler hatte viele Jahre wegen des Missbrauchsgesessen. Und ob die Zeit im Gefängnis lang genug und er erfolgreich therapiert war, wie sollte Wencke das beurteilen? Gernot Huckler kreiste die ganze Zeit lediglich wie ein Phantom über ihr. Immer, wenn sie sich an seine Spuren heftete, war er schon verschwunden, um dann ganz woanders wieder aufzutauchen. Begegnet war sie diesem Menschen nie.
Was wusste sie denn eigentlich über ihn? Abgesehen davon, dass er pädophil veranlagt war. Zugegeben, es handelte sich um eine verhängnisvolle sexuelle Orientierung. Aber war das seine einzige Charaktereigenschaft? Das erschien ihr eindeutig zu wenig.
Komisch, dachte Wencke, bisher habe ich mir keine Gedanken darum gemacht, wer oder was Gernot Huckler noch sein
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