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Die Blütenfrau

Die Blütenfrau

Titel: Die Blütenfrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Lüpkes
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vorhersehbar gewesen. Wer hätte denn ahnen können, dass Gernot Huckler – wenn er denn tatsächlich dahintersteckte – auf einmal ein derartiges Tempo vorlegte? Niemand.
    Tillmann Erb wusste, er würde in dieser Nacht kein Auge zukriegen. Zu viel stand auf dem Spiel. Er würde Hilfe brauchen. Noch einmal Hilfe brauchen.
    Über dem Schreibtischstuhl lag ordentlich und glatt seine Kleidung. Er stand auf und näherte sich seinen Sachen. Irgendwie wollte er die anstehenden Telefonate lieber nicht im Schlafanzug führen. Auch wenn ihn hier kein Mensch sah. Im Schlafanzug war er der unbedeutende Tillmann Erb, der Verlierer, der Unverstandene, der unscheinbare Mann von nebenan, nicht mehr und nicht weniger. Erst in Sakko, Hemd und Bundfaltenhose glaubte er wieder den eigenen Lügen, die in den letzten Jahren zu seinem Leben geworden waren. Die Lügen, die niemals ans Tageslicht kommen durften. Weil sonst alles vorbei wäre.
    Er zog sich an, als wollte er noch ausgehen. Er kämmte seine Haare, tupfte sich Aftershave ins Gesicht und putzte sich sogar noch einmal gründlich die Zähne. Dann begegnete ihm im Spiegel wieder der studierte Herr Psychologe. Erb begrüßte ihn erleichtert.

29.
    Viel Zeit bleibt nicht mehr. Sie sind schon ganz nah dran.
    An Flucht denke ich nicht. Das wäre Schwachsinn. Die kriegen mich sowieso.
    Obwohl ich gerade zu dem Entschluss gekommen bin, mit dem Ganzen aufzuhören. Ich möchte das nicht mehr tun. Ich will das alles nicht mehr. Ich fühle mich nicht besser, wenn ich es mache. Es bringt mir keine Erleichterung, es befriedigt mich nicht. Es ist weder schön, noch macht es Spaß. Und ich kann mir gar nicht erklären, warum ich es überhaupt getan habe.
    Jetzt gerade, in diesem Augenblick bin ich mir hundertprozentig sicher, dass ich nie wieder ein Mädchen in die Finger bekommen will. Ich würde meinen rechten Arm dafür abhacken. Aber hundertprozentige Sicherheit bedeutet einen Katzenschiss, wenn man zwei Seelen hat.
    Ich wünsche, dass sie mich endlich finden. Vorhin waren sie so knapp dran, da dachte ich schon: Das war’s. Feierabend. Und es war nicht der schlechteste Gedanke. Aber sie haben meine Lügen geglaubt.
    Die zweite Seele will wieder raus, das spüre ich ganz deutlich. Ich muss ihr einen Ausgang verschaffen. Am Hals. Nur ein wenig. An dieser Stelle hab ich es noch nie gemacht. Das Blut läuft hier schneller heraus als an den Armen. Ich mache einen zweiten Schnitt. Irgendetwas führt mir die Hand. Meine Seele? Macht meine Seele den Schnitt? Tiefer soll er sein. Und länger. Die Seele will raus aus meinem Körper. Es ist so eng da drin. Es gibt keinen Platz mehr.
    Mann, ist das viel Blut. Schön. Ich spüre Erleichterung.
    Habe ich eigentlich noch etwas zu erledigen? Habe ich irgendetwas vergessen? Ich glaube nicht.
    Gut wird es aussehen. Wenn die mich finden, werden sie verstehen. Es ist alles geschafft.
    Endlich.

30.
    Rock Rose
(Gelbes Sonnenröschen)
    Botanischer Name: HELIANTHEMUM NUMMULARIUM
    Blüte gegen Panik, Verzweiflung und Todesangst
     
    «Es regnet, Gott segnet, die Erde wird nass   …» Nie hätte Gernot gedacht, dass er sich einmal so gern an ein Kinderlied erinnern würde. Dass er sich so verzweifelt an diese paar vertrauten Worte klammern würde. An die simple Melodie, Töne wie Tropfen, die sich wiederholten, plätscherten, harmlos klangen. Doch der Regen, der gerade über Spiekeroog niederging, war alles andere als harmlos.
    «Es regnet, Gott segnet   …»
    Ihn segnete er nicht. Ihn wollte er ersaufen lassen. In einem Brunnenloch, in dem das Wasser bereits an seinen Beinen emporstieg. Kalt war ihm nicht. Und da es in den letzten Wochen so gut wie keinen Niederschlag gegeben hatte, war der Wasserstand auch nicht allzu hoch. Noch nicht. Natürlich konnte er die Leiter hinaufklettern. Bis zum verschlossenen Deckel würde das Wasser heute nicht mehr steigen. Gernot klammerte sich an die Sprossen. Er würde Durchhaltevermögen beweisen müssen. Wie lange reichte seine Kraft? Und wie lange würde er die Schmerzen in seinen Armen und Beinen ertragen können?
    Gernot hatte keine Ahnung, ob und wann er hier unten gefunden und befreit werden würde. Der Einzige, der wusste, wo er steckte, war Hanno Thedinga. Und an dessen Einsehen glaubte er schon lange nicht mehr. Der Kerl war kein Mensch. Von ihm durfte man kein Mitgefühl erwarten. Auch die Katze hatte das schmerzlich erfahren müssen.
    Gernot hatte sich zu Tode erschreckt, als er vor endlos erscheinenden

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