Die Blütenfrau
…»
Natürlich! Wenn Hanno Thedinga der Mörder von Allegraund Marina war, dann kam es ihm doch gerade recht, dass Gernot Huckler einen 1a-Verdächtigen abgab. Er musste nur verhindern, dass Huckler Gelegenheit hatte, das Missverständnis aufzuklären. Es konnte sogar sein, dass das Verschwinden von Griet Vanmeer damit zusammenhing. Zwar war Hanno die ganze Zeit über auf der Insel geblieben und konnte das Mädchen nicht selbst verschleppt haben. Aber es war ja nicht auszuschließen, dass er mit anderen Menschen zusammenarbeitete, die ihm einen Gefallen schuldeten oder dieselben Interessen hatten wie er. Gab es nicht diese Netzwerke, in denen sich pädophile Männer zusammentaten und gemeinsame Sache machten?
«Sagen Sie, Frau Vanmeer, hatte Hanno Thedinga Kontakt zu anderen … äh, Männern seiner Art?»
«Was meinen Sie damit?»
«Wer auch immer Griet heute nach der Schule abgefangen hat, musste doch Bescheid wissen über ihre Gewohnheiten, über ihren Stundenplan und den Schulweg, den sie gewöhnlich nimmt. Vielleicht hat Hanno da …»
«Meine Tochter … Sie glauben doch nicht, dass sie …? Ich hatte die ganze Zeit gehofft, sie sei vielleicht nur abgehauen.»
«Ich würde Sie gern beruhigen, Frau Vanmeer. Aber was ist, wenn Hanno Thedinga dieser
Samael
ist?»
«Das wäre vielleicht möglich.» Wencke hörte, dass ihr Atem schneller ging. «O Gott, er hat, also … Hanno hat immer meine Blutegel zur Entsorgung mitgenommen. Er sagte, er würde sie dort in einen Graben … Also, wenn er das getan hat, das mit dem Mädchen. Mit den Blutegeln … Er hat immer davon gesprochen, dass er so einen Druck verspürt. Und er hat sich selbst verletzt … Und vielleicht auch Griet? Bitte nicht!» Esther Vanmeers Stimme sprang eine Oktave nach oben. «Sie müssen etwas unternehmen! OGott, ich habe schreckliche Angst. Vielleicht … um Himmels willen … vielleicht war Hanno ja auch nur in meiner Praxis, weil er Griet nahe sein wollte. Aber in Wirklichkeit … Ich mag gar nicht daran denken …»
Wencke hatte bereits kehrtgemacht und ihren Schritt beschleunigt, sie hastete durch den Regen, ohne nach links und rechts zu schauen.
«Mein Gott, bitte, Frau Tydmers, ich flehe Sie an. Sie müssen sofort etwas unternehmen, hören Sie?»
«Das werde ich tun, Frau Vanmeer. Ich muss jetzt auflegen, damit ich meinen Kollegen anrufen kann. In Ordnung?» Wencke drückte das Gespräch weg. Wo befand sie sich hier eigentlich? Sie hatte keine Ahnung, wie weit sie gelaufen war. Es kam ihr vor, als habe sie einmal die Insel umrundet – aber erschienen einem Wege nicht immer länger, wenn man es eilig hatte? Sie war nass bis auf die Knochen und rannte durch den Wind.
Ein paar Mal versuchte sie, Axels Nummer zu wählen. Doch im Laufschritt war es unmöglich, zudem rutschten ihre Finger von den Tasten, denn alles, wirklich alles war vom Regen in Mitleidenschaft gezogen worden. Sie musste kurz stehen bleiben, und endlich klappte die Verbindung. Wencke ließ es unbarmherzig klingeln und gab Axel keine Gelegenheit, schlaftrunken seinen Namen auszusprechen, als er nach einer halben Ewigkeit ans Telefon ging.
«Wir treffen uns in zehn Minuten vor dem Hotel Inselnest.»
«Wencke? Bist du das? Und wieso kann das nicht bis morgen warten?»
«Weil wir keine Zeit haben.»
«Was ist denn … Wo steckst du überhaupt?»
«Ich bin schon unterwegs. Du musst sofort kommen. Allein gehe ich da nicht rein.»
«Wo rein?»
«In Hanno Thedingas Zimmer.»
Wencke setzte sich wieder in Bewegung. Sie rannte über den nassen Sand und die vom Regen abgekühlten Steine. Es blieb keine Zeit, sich die Schuhe anzuziehen. Irgendwie hatte sie das Gefühl, keine unnötige Sekunde verstreichen lassen zu dürfen. Hanno Thedinga wusste, wo Gernot Huckler steckte, da war sie sicher. Er wusste auch, welches Spiel hier gespielt wurde. Und wenn sie ganz viel Glück hatte, dann würde er auch verraten, wo Griet Vanmeer abgeblieben war.
Tatsächlich hatte Axel es geschafft, genauso schnell anzukommen wie sie. Zwar sah er nur halb so wach aus, wie sie sich fühlte, dafür hatte er bei weitem noch mehr Atem als Wencke. Der Regen schien ihm zu missfallen, aber er verkniff sich jegliche schlauen Sprüche, als er seine völlig geschaffte und bis auf die Knochen durchnässte Kollegin sah. Er fragte nur: «Was machen wir eigentlich hier?»
Wencke zog ihn zum Hintereingang des Hotels und klopfte heftig gegen die Tür. Einen
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