Die Blütenfrau
eigentlich hier? Huckler wird sich kaum im Hotel versteckt haben.»
«Vielleicht finden wir in Hanno Thedingas Zimmer einen Hinweis auf seinen Verbleib.»
Wencke stieß die Tür auf und lief durch den bereits abgesperrten Flur die Treppe hinauf. «He, junges Fräulein, stehngeblieben!», rief ein aufgebrachter Polizist. Wenckeignorierte ihn. Der leitende Beamte der Wittmunder Einsatztruppe trat auf den Flur, erkannte sie und ließ sie ins Zimmer. Brockelsen, der Inselpolizist, war ebenfalls anwesend, er schien wenig begeistert zu sein, Wencke noch einmal über den Weg zu laufen. Seiner Meinung nach hatte es seit der Ankunft dieser verrückten Kommissarin so viel Unfrieden auf dem Eiland gegeben wie seit Jahren nicht mehr. Zumindest hatte er einen entsprechenden Kommentar abgelassen, als er in aller Herrgottsfrüh die Leiche im Inselnest zu sehen bekam.
«Darf ich mich auch ein bisschen umschauen?», fragte Wencke, ohne wirklich eine Erlaubnis abzuwarten, denn schon während sie diesen Satz aussprach, spähte sie in alle Ecken.
«Sie tragen keine Handschuhe, Frau Kollegin. Und keinen Schutzanzug. So wird das nix.»
«Ja, ja … Was ist denn im Kleiderschrank? Vielleicht eine grüne Cordhose?»
Ein sehr großer Polizist öffnete die quietschende Sperrholztür. «Schauen Sie rein. Alles schicke Sachen. Bundfaltenhosen. Gestärkte Hemden. Krawatten. Und so weiter.»
Der Kleiderschrank von Hanno Thedinga war tatsächlich pingelig bestückt. Wencke musste an die Adoptiveltern des toten Jungen denken. An die karierten Hemden und Lederwesten. An die Gummistiefel, die im Flur des Wohngebäudes ausgezogen werden mussten. Was mochten die Bauern in diesem Moment empfinden? Sie hatten die traurige Nachricht wahrscheinlich schon erhalten. Ob sie so etwas hatten kommen sehen? Ob sie das Gefühl hatten, ein Teil von ihnen sei gestorben – auch wenn ihr Pflegesohn in vielen Dingen ganz anders gewesen war? Bei der Garderobe angefangen? Aber diese hellbraune Jacke in der Ecke – Wencke stutzte –, die hätte auch zu Bauer Thedinga gepasst. Seltsam, das abgetragene,unmoderne Stück hing wie ein Fremdkörper zwischen den Sakkos.
«Kann ich mir dieses Teil da mal näher anschauen?»
Der Mann holte den kurz geschnittenen Wildlederblouson heraus. «Haben wir schon untersucht. Nichts Besonderes. Auch in den Taschen nichts Spektakuläres. Ein bisschen Öl am Ärmel …»
«Öl?», hakte Wencke nach. «Was für Öl?»
«Keine Ahnung.» Er schnupperte daran. «Schmieröl. Könnte von einem Motorrad stammen.»
«Das ist Hucklers Jacke!», triumphierte Wencke. Doch Axel hatte sofort einen Haufen Gegenargumente parat: Die Jacke könne jedem gehören, und das beweise nichts von Wenckes Theorie, und warum sollte Thedinga sich diese Jacke überhaupt in den Schrank hängen … Aber Wencke war sich absolut sicher. Sie entriss dem Beamten das Lederteil, jeglichen Protest von seiner Seite erstickte sie im Keim. «Sie sagten doch, die Jacke sei bereits untersucht worden.»
«Ja, aber trotzdem muss ich Sie bitten …»
«In diesem Fall geht es um Gernot Huckler, und das ist Angelegenheit der Kripo Aurich. Es kann sein, dass er in Gefahr schwebt, und da wollen wir doch nichts aufgrund dieser lächerlichen Dienstwege vermasseln, oder?»
Widerstand war zwecklos. In der Tasche fand Wencke eine silberne Dose, in der Bonbons aufbewahrt wurden. Honiggelbe Bonbons. Die hatte sie doch schon mal gesehen? Als Wencke die Ärmel auf links zog, rieselte ein wenig Sand heraus. Sie betrachtete die Körnchen und entdeckte kleine hellgrüne Krümel, die sie zwischen den Fingern zerrieb. «Moos», stellte sie fest. «Wo auf der Insel gibt es Moos?»
«Am Teich im Kurpark», stellte Axel trocken fest. «Unweit der Stelle, wo Marinas Leiche gestern gelegen hat, sitzt das Moos millimeterdick auf dem Holzsteg.»
«Aber wieso hängt dieses Zeug in der Innenseite der Jacke? Normalerweise beschmutzt man sich doch außen. Es sei denn, man zieht die Jacke hektisch aus, das weiß ich von meinem Sohn. Wenn er es eilig hat, stülpt er die Jackenärmel immer um.» Axel konnte damit augenscheinlich nichts anfangen. Doch Wencke ließ sich nicht beirren und untersuchte das Kleidungsstück weiter. In Höhe der Achseln hatten sich strohige Gräser verhakt. «Dünengras, möchte ich wetten. Das haben wir bei unserer Suchaktion gestern zur Genüge gesehen.» Wencke wandte sich um. Der Spiekerooger Inselsheriff stand immer noch unbeteiligt in der Tür, als
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