Die Blütenfrau
Gesicht bekommen hatte, weil er in seinem Rücken stand und ihn in Schach hielt, schubste ihn unsanft ins Treppenhaus.
«Vorsicht, Leute», mahnte Britzke. «Ich glaub, er ist noch nicht ganz nüchtern. Hinterher knallt er uns noch die Treppe runter.»
Rüdiger nahm dem Bullen ab, dass er sich echte Sorgen machte. Er war so ein ruhiger Typ, ganz ausgeglichen, bestimmt Familienvater. Früher war Rüdiger mal so ähnlich gewesen, ganz ganz früher.
Sie schoben sich durch die schwere Metalltür, die in den Kellerflur führte. Von dort aus gingen die vielen einzelnen Kabuffs ab. Rüdiger wusste nicht auf Anhieb, welches zu seiner Wohnung gehörte. Er hatte nicht gelogen, er kam so gut wie nie hier runter.
«Die hier isses glaube ich», sagte er und zeigte mit einem Kopfnicken zur Tür hinten links.
«Hallo? Griet, bist du hier?», rief die Polizistin. Ihre Hände zitterten, als sie den Schlüssel ins Loch steckte. Sie schien schrecklich aufgeregt zu sein. Hatte sie tatsächlich Angst? Warum? Was erwarteten sie in seinem alten Kellerverschlag? Ein Horrorkabinett, oder was?
«Hilfe!» Rüdiger Wesselmann meinte ein leises Flehen zu hören. Das konnte doch nicht wahr sein. «Ich bin hier, Hilfe!», kam es aus dem Raum.
«Sie lebt!», kreischte die Polizistin und fummelte hilflos am Schloss herum. «Verdammt, helft mir mal. Ich bin völlig fertig, ich kann nicht mehr …»
Britzke trat zu ihr, drehte den Schlüssel um, schob die Tür auf und ging geduckt hinein. «Griet?»
Je weiter die Tür sich öffnete, desto mehr Licht fiel indas Kabuff. Und obwohl Rüdiger Wesselmann blieb, wo er stand, konnte er langsam ausmachen, was sie soeben in seinem Kellerraum gefunden hatten: Ein junges Mädchen saß auf dem Boden. Sie war schwarz gekleidet und offensichtlich ziemlich am Ende mit den Nerven. Sie hielt sich die Hände vor das Gesicht, um nicht geblendet zu werden. Ihr Körper zuckte, doch ein Weinen hörte er nicht.
Rüdiger Wesselmann hatte dieses Mädchen noch nie gesehen. Bei seinem Leben würde er das schwören. Bei seinem Leben, welches zu diesem Zeitpunkt eigentlich auch schon nichts mehr wert war.
34.
Gentian
(Herbstenzian)
Botanischer Name: GENTIANA AMARELLA
Die Blüte gegen Zweifel und Pessimismus
Es war einfach nicht zu glauben. Das konnte beim besten Willen nicht wahr sein.
Noch immer war Wencke wie vor den Kopf geschlagen. Vom Frühstück in der Inselbäckerei bekam sie keinen Bissen herunter. Die Tasse Milchkaffee und das Croissant blieben unangetastet vor ihr liegen. Der Anruf von Britzke hatte ihr einen dermaßen dicken Kloß in den Hals gesetzt, dass sie nicht schlucken konnte. Und auch kaum reden. Ausnahmsweise war es also Axel, der das Gespräch – es glich eher einem Monolog – in Gang hielt.
«Griet Vanmeer ist Gott sei Dank nahezu unverletzt, bis auf eine schmerzhafte Schleimhautreizung im Rachenraum. Dies dürfte die Folge des Desfluran-Inhalats sein, mit dem der Entführer sie eingeschläfert hat. Ein Krankenhausaufenthalt ist zum Glück nicht erforderlich. Jetzt ruht sich das Mädchen zu Hause erst einmal richtig aus. Später wird sie noch eine Aussage machen. Obwohl die Beweislage auch so schon nahezu lückenlos ist.»
Axel Sanders hatte noch feuchtes Haar, denn nach dem nächtlichen Einsatz und diesen unerfreulichen Nachrichten am Morgen hatte er erst einmal ausgiebig geduscht. Er blinzelte, als die Morgensonne durch die Scheiben des Stehcafés strahlte. Wenn man ihn so sah, konnte man meinen, er sei ein Geschäftsmann und habe gerade einen gewinnversprechenden Vertragsabschluss gemacht. Wencke dagegen warfassungslos. Sie hatten heute Nacht einen Selbstmörder gefunden, einen jungen Mann in seiner Blutlache liegen sehen. Und Axel tat, als sei alles bestens. Selbst während die Spurensicherung der Kripo Wittmund das traurige Dachzimmer untersuchte, war ihm keinerlei Niedergeschlagenheit anzumerken gewesen. Wahrscheinlich weil seiner Verlobten und den anderen Kollegen daheim angeblich der Supercoup gelungen war.
«Ich habe Kerstin gerade nochmal nach den Details gefragt. Sie ist auch vollkommen perplex. Alles passt. Es sind eindeutig dieselben Kleidungsfasern auf den Kinderrädern und der Hose von diesem Wesselmann. Und in seinem Schrank sind Pal gleich stapelweise Nacktfotos entgegengefallen. Alles Aufnahmen von Kindern. Und dann die Blutegel. Meine Güte, was hätten wir uns für einen Ärger ersparen können, wenn wir diesen Scheißkerl nicht von der Verdächtigenliste
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