Die Blütenfrau
Erb und den anderen Wartenden mit.
«So lange noch …» Einer der Kollegen gähnte, drei andere streckten sich, als seien sie soeben geweckt worden.
Das 1. Kommissariat saß wieder im Sitzungszimmer. Fast vollständig, denn Wencke Tydmers und ihr Kollege verließen gerade erst die Insel. Das erste Schiff zum Festland hatten sie offensichtlich verpasst, nun erwartete man sie innerhalb der nächsten Stunde. Auch die Spurensicherung war bereits hierhin unterwegs. Viel wurde nicht gesprochen in dem Raum mit den vielen Fenstern. Die sich überschlagenden Ereignisse und das plötzliche Ende der Suche hatten allen zugesetzt. Erleichterung über die Verhaftung von Rüdiger Wesselmann hatte sich dagegen noch nicht eingestellt. Es war wahrscheinlich alles zu schnell gegangen. Jeder blieb ein paar Momente für sich. Greven holte gerade Kaffee, Britzke sortierte gemeinsam mit einem Kollegen einen Blätterwald, und diese Pal telefonierte mit der Pressestelle. Alle warteten darauf, dass Wesselmann vernehmungsfähig war und zum Fischteichweg überführt wurde. Und nun war gerade der Anruf gekommen, dass es noch eine Weile dauerte. Erst in anderthalb Stunden käme der Bulli am Hinterausgang an.
Die ganze Zeit war Tillmann Erb jetzt mit von der Partie. Und die ganze Zeit überlegte er, wann wohl die richtige Gelegenheit war, sich aus dem Staub zu machen. Offiziell hatte er hier nichts mehr zu suchen. Sein Auftrag, Gernot Hucklers Rolle in diesem Fall zu klären, war erledigt.
Rüdiger Wesselmann stand als Mörder fest. Für die Presse, für die Beamten, für den Mob. Und fast hätte Tillmann Erb inzwischen sogar selbst daran geglaubt. Wenn er es nicht besser wüsste. Nein, er hatte keine Ahnung, wer der wahre Mörder war. Aber er wusste, wer es nicht war.
Trotzdem hatte der völlig aufgelöste Wesselmann laut Grevens Erzählung schon so etwas wie ein Geständnis gestammelt, vorhin in der U-Haft -Zelle der Auricher Behörden, die nur ein paar Ecken weiter am Schlossplatz neben den Gerichtsgebäuden lag. Die Sache von Spiekeroog würde man auch noch irgendwie aufklären können, hatte sich der Staatsanwalt optimistisch geäußert, nachdem er offiziell Haftbefehl gegen Wesselmann erlassen hatte. Ob der Selbstmord von Hanno Thedinga im direkten Zusammenhang mit dem dortigen Mädchenmord stand, würde noch untersucht. Doch die Beweislage im Mordfall Allegra Sendhorst sowie bei der Entführung von Griet Vanmeer spräche eindeutig für Rüdiger Wesselmann, oder vielmehr gegen ihn, je nachdem, wie man es sah. Immerhin konnten seine Stofffasern an beiden Mädchenrädern sichergestellt werden. Wesselmann war im Besitz von Blutegeln, und in seinem Küchenschrank hatte man sogar eine Flasche Desfluran gefunden, das Zeug, mit dem Griet Vanmeer betäubt worden war. Er verfügte zudem über kein taugliches Alibi und war einschlägig vorbestraft.
Erb fand, es war Zeit zu verschwinden. Bald waren Ferien. Vielleicht würde er mit seiner Frau und seiner Tochter ein paar Wochen ganz weit wegfahren. Hier war es zu heiß fürihn geworden, hier in Deutschland. Er würde lieber in die Dominikanische Republik fliegen, bis sich alles beruhigt hatte. Und dann vielleicht mal was anderes machen, keine Gutachten mehr, keine Patienten. Vielleicht bot sich ihm eine Chance in der Forschung. Wenn Wolfgang Ulferts die Wahlen gewann, würde man ihm sicher einen attraktiven Posten anbieten.
Doch wenn Erb jetzt auf einmal die Runde machen, jedem die Hand reichen und verschwinden würde, wäre das viel zu auffällig. Er hatte sich dem Kriminalteam als engagierter Psychologe präsentiert, da konnte er den Showdown, das Happy End nicht einfach ausfallen lassen. Zudem stand draußen vor dem Haus eine Ansammlung von Schaulustigen und Journalisten. Unter ihnen sicher auch Katharina Zwolau, und die hielt in erster Linie nach ihm Ausschau, daran bestand kein Zweifel. Also musste er bis zum Ende durchhalten. Nur noch neunzig Minuten, dachte er, dann war es geschafft. Und außerdem würde er noch einmal ins Labor müssen. Auf Wiedersehen sagen. Und die letzten Dinge regeln.
«Entschuldigen Sie mich einen Augenblick», sagte er in die Runde und verließ den Raum. Die Zeit reichte für das, was er noch zu erledigen hatte. Während er durch den langen Flur ging, grüßte er links und rechts die Polizeibeamten. Alles war ihm hier vertraut geworden in den letzten zwei Tagen. Diese enge Zusammenarbeit mit den Ordnungshütern hatte ihm fast ein klein wenig Spaß gemacht.
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