Die Blume der Diener
Raster aus Schlaf und Arbeit, das die Macht eines Rituals angenommen hatte. Seit etwa dreißig Jahren erneuerte sie so jedesmal ihre Kraft und vergrößerte ihr Wissen; deshalb hatte sie gelernt, diese kalte und stille Jahreszeit als das geliebte Herz des Jahres anzusehen. Wie groß war deshalb Margarets Pein, als diesmal der Spiegel ihr nicht zeigen wollte, was sie sehnlichst zu sehen wünschte: wohin die Gemahlin des Ritters nach Allerheiligen gegangen war.
Wann immer Margaret nach ihrer Feindin Ausschau halten wollte, flackerte in dem Spiegel hell die Prophezeiung auf. Durch keine Willensanstrengung oder Magie war es der Zauberin möglich, dieses Bild von seiner Oberfläche zu verbannen. Zu solchen Zeiten konnte sie nur den Schleier darüber legen, die andere Frau und deren Schicksal aus ihren Gedanken verbannen und warten, dass die Vision von selbst verblasste. Aber immer wieder zwang die Neugier Margaret dazu, einen Blick in den Spiegel zu werfen und das Bild ihres eigenen Feuertodes zu betrachten.
Schließlich kam eine Zeit, da sie sich nicht einmal mehr der teilweisen Gehorsamkeit des Spiegels sicher sein konnte. Manchmal blieb er einfach leer und verbarg vor ihr die Höllenpfühle oder die Experimente ihrer unfreiwilligen Lehrer. Manchmal ersetzte er ein Bild durch ein anderes und zeigte ihr zum Beispiel einen hohnlachenden Dämon anstatt der Wintersterne. Immer sprunghafter wurden die Visionen, bis zur Weihnachtszeit der Spiegel Margarets Befehle nur noch mit selbst gewählten Bildern beantwortete – mit Bildern von einem großen Schloss und einem Kräutergarten; mit Bildern, die sie nicht verstand.
In einer schneereichen Nacht saß Margaret vor dem Spiegel und dachte nach. Vielleicht hatte sie ihre Magie überbeansprucht. Wenn die Blutstropfen ihrer Feindin den Zauberspiegel verwundet und geschwächt hatten, benötigte er vielleicht Zeit, um zu heilen und seine Kraft wiederzuerlangen. Nun gut, dann würde sie zu einfacheren Dingen zurückkehren, zum Einfachsten, das sie sich ausdenken konnte, und Schritt für Schritt sich wieder zum Größeren hocharbeiten. Während Margaret den schimmernden Stoff des Schleiers über dem Spiegel betastete, richtete sie die Gedanken auf ihre Lehrlingszeit und ihre ersten schwankenden Schritte hinein in die Welt des Spiegels.
Sie erinnerte sich an einen Bauernhof, an einen blühenden freien Grundbesitz – die erste klare Vision, die ihr der Spiegel geschenkt hatte. Die Bäuerin war eine anmutige Frau mit rundem und rosigem Gesicht gewesen; ihr Haar war schlehenschwarz und ihre Augen so grau wie Glas. Sie ging zwischen der Küche, dem Garten, der Meierei und der Kräuterkammer hin und her, verbrachte ihre Tage mit wohl geordneter Arbeit und füllte ihre Vorratskammern mit Käse und getrockneten Kräutern sowie mit Flaschen, die gefüllt waren mit den Essenzen von Blume, Blatt und Wurzel. Es war etwas Freundliches und Lebhaftes an ihr und ihr Lächeln war wie die Sonne auf ruhigem Wasser. Margaret hatte sie mit kleinen Heimsuchungen belegt – mit klumpiger Butter, rauchenden Kaminen und Mägden, die über dem Buttern einschliefen – und doch für diese Frau eine Art neidischer Zuneigung verspürt. Sie hatte ihr etwas anvertraut, nämlich … nein. Daran wollte sie nicht denken. Wenn auch der Spiegel keinem anderen Befehl mehr gehorchte, würde er aus alter Gewohnheit zumindest diese bäuerliche Vergangenheit zeigen, dachte Margaret.
Sie enthüllte den Spiegel und fuhr mit der Hand fest über dessen Oberfläche. Eine Zeit lang schimmerte er leer, doch dann verwandelte sich der messingfarbene Nebel zum trägen Flackern eines Feuers in einem runden Steinkamin. Ah.
Der Kamin war nicht gefegt und mit Steintöpfen übersät, in denen alter Haferbrei faulte. Margaret zog die Augenbrauen zusammen. Das war nicht das Gehöft, an das sie sich zu erinnern glaubte. Ihre Bauersfrau war eine reinliche Seele gewesen, die niemals unsaubere Töpfe auf dem Feuer gelassen oder es geduldet hätte, dass alte Kohlen und Asche den Herd schwärzten. Konnte sich so viel verändert haben? Neugierig beobachtete Margaret, wie sich das Bild weitete. Eine kleine, verwelkte Frau hockte auf einem dreibeinigen Stuhl beim Feuer und flickte einen zerrissenen Kittel mit grobem Garn. Sie war zugleich zart und fett und hatte hohle, knochige Schultern, die sich über einen schwangeren Bauch wölbten. Ein Knäuel aus Hunden und Kindern mit schmutzverschmierten Gesichtern tummelte sich um ihre
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