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Die Blume der Diener

Die Blume der Diener

Titel: Die Blume der Diener Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Delia Sherman
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würde es eines Tages auch bei ihm sein, wenn er nun nicht versagte, dachte er bitter.
    Mit der Verwegenheit der Verzweiflung stand Lionel auf, zog sein Schwert und hielt es quer vor sich. Worte sprangen ihm auf die Lippen; sie waren unvermeidlich und so förmlich wie ein Gebet. »Ich klage um dich, gute Taube«, sagte er. »Ich werde deine Schmerzen lindern und schwöre der grausamen Mutter deiner Geliebten Rache. Bei diesem Schwert schwöre ich dir, dass ich die widernatürliche alte Hexe zur Strecke bringe und sie ohne Gnade töte, so wie ich ein wildes Tier töte.«
    Die Taube spreizte wie zur Antwort die Flügel und schien einen Augenblick lang in der blendenden Helle einer Kreuzesform. Dann verschwand sie so, wie der Hirsch verschwunden war – ohne Vorankündigung und ohne eine Spur zu hinterlassen.
    Zitternd senkte Lionel das Schwert und stand blinzelnd da, bis ihn Glaucus mit der Schnauze anstieß. Das brachte ihn wieder zu sich. Im schimmernden Mondlicht bestieg der König sein schweres, graues Ross und ritt von der verwunschenen Lichtung fort. In der großen Verwunderung über das, was er gehört und gesehen hatte, achtete er nicht auf den Weg und machte sich keine Gedanken darüber, wie er wieder nach Hause finden sollte.

Kapitel Drei

    Für Margaret war der Herbst immer die Jahreszeit der Vorfreude gewesen. Seine länger werdenden Nächte kündeten die lange, stille, tröstliche Dunkelheit des Winters an. Der Herbst versprach Studien, Schlaf und das herzstärkende Vergnügen, die bitteren Dämonenwinde um den Turm heulen zu hören, während sie behaglich im Inneren saß.
    In diesem Herbst aber empfand Margaret keinen Trost im Sterben des Jahres. Ihr Spiegel stand immer noch zur Wand gedreht und ihre Winde hatten sich verdrossen und niedergeschlagen in die Kammer des Flüsterns zurückgestohlen. Der heilende Einfluss ihrer Tochter hatte die Atmosphäre durchtränkt wie Öl einen Wundverband. Sie hatte die Geisterwinde erstickt und das verwundete Land geheilt. Nun war nur noch der Höllenfürst draußen. Er schlich rastlos um die Mauern von Cygnesbury, schnüffelte an den Toren und heulte Verwünschungen über alle Hexen und Zauberinnen.
    Obwohl Margaret ihre Niederlage zugeben musste, verspürte sie eine gewisse Erleichterung. Trotz ihres Hasses und ihrer krebsartig wuchernden Angst hatte Margaret sich den Tod ihrer Tochter nie in allen Einzelheiten vorgestellt. In einer versteckten Ecke ihrer Seele fürchtete sie sich vor dem endgültigen Sieg. Beinahe dankbar rief sie den Erzdämon zurück und gab die Belagerung auf. Mein Feldzug ist nicht ganz fruchtlos geblieben, dachte sie. Die Stärke ihrer Feindin war ernsthaft auf die Probe gestellt worden. Jetzt war es Zeit, sich zurückzuziehen und neue Pläne zu schmieden. Vielleicht war die Alchimie – die unter allen Geheimwissenschaften am wenigsten von der persönlichen Macht des Anwenders abhing – eine geeignetere Waffe als ihr verräterischer Spiegel.
    Also kehrte Margaret zu den langen, stillen Stunden des Studiums zurück, das sie während ihres Krieges vernachlässigt hatte. Diesmal war ihre Einsamkeit stärker als je zuvor, doch sie war willkommen und beinahe sogar tröstlich. Die Sturmdämonen waren erschöpft, übellaunig und verbittert und Margarets Füchsin wurde immer schläfriger. Ohne die Hilfe des Spiegels war Margaret bei der Auslegung der Texte ganz auf ihren eigenen Verstand und ihre Urteilskraft angewiesen. Sie empfand diese Übung als angenehm. Die Eigenschaften von Markasit und Antimon, die Anwendung von Mischungen und Ausflockungen nahmen sie ganz in Anspruch und verscheuchten die Schatten in ihren Gedanken – die Schatten von Lentus, ihrer Tochter und dem goldhaarigen Henker.
    Im selben Augenblick, in welchem König Lionel der Taube Rache versprach, brütete Margaret über einem Zauberbuch, während die Füchsin ihr zu Füßen träumte und zuckte. Die Luft war kalt und reglos. Im zitternden Schein des Kerzenlichts, das über die vergilbten Seiten des Zauberbuchs fiel, hellten sich Margarets schwärzeste Ängste auf und wurden vom leisen Umblättern der Pergamentseiten leise erstickt. Tief im stillen Innern ihrer Seele wusste Margaret, dass sie nun zufrieden war.
    Sie dachte gerade über die alchimistische Theorie der mystischen Vereinigung nach, als die Füchsin auf jaulte. Verärgert versetzte Margaret ihrem Hausgeist einen Tritt. Das Jammern verebbte nicht, sondern verdunkelte sich zu einem tiefen, unmelodischen Ton, der

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