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Die Blume der Diener

Die Blume der Diener

Titel: Die Blume der Diener Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Delia Sherman
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verwüsteten Haus und erstickte den lauten Herzschlag des Königs sowie das sanfte Rascheln, das Glaucus’ Grasen verursachte. Dann erhob sich tief im Wald ein qualvoller, klagender Schrei. Der König bekam eine Gänsehaut. Es entstand eine kurze Pause; dann ertönte wieder der Schrei. Diesmal war er näher und noch qualvoller und bald floss die Lichtung vor wortlosem Jammer über. Von Ehrfurcht ergriffen starrte Lionel in das Baumdickicht und erkannte in dessen schattenverwobener Tiefe ein weißes Flackern. Das Flackern verfestigte sich, wuchs und verdichtete sich zu einer Taube – zu einer Taube, die so mondweiß wie der Hirsch war; zu einer Taube, die mit menschlicher Stimme wehklagte. Sie umkreiste das Haus, stieg ab und ließ sich auf dem Griff des rostigen Schwertes nieder.
    »Weh«, jammerte sie. »Weh dem Tag, da meine Liebe zur gepriesenen Blume der Dienerschaft ward.«
    Lionels Hand schloss sich um den Griff seines Schwertes, doch er stand nicht auf. Die Taube starrte ihn mit blutroten Augen an und trat auf dem dick verkrusteten Schwertgriff von einer Klaue auf die andere. Sie hob den Schnabel und weinte karmesinrote Tränen, die ihr von Hals und Brust perlten und das Schwert in einen Strom dunklen Blutes tauchten.
    Der König benetzte sich die Lippen. »O Taube«, sagte er mit rauer Stimme, »erzähle mir von deinem Kummer.«
    Die Taube putzte sich das Gefieder und benetzte die schneeweißen Schwingen mit Blut. Lionel wollte gerade eine weitere Frage stellen, doch bevor er ein Wort sagen konnte, streckte sich die Taube auf ihrem unheimlichen Sitz und stimmte einen Gesang an:

    »Oh, es war ihrer Mutter böse Macht,
    Durch die die Räuber kamen in der Nacht;
    Zu Raub und Totschlag kamen sie an diesen Ort.
    Sie hatten ihren Spaß und zogen wieder fort.

    Glaubst du nicht, dass das Herz ihr schmerzte,
    Als Erde auf sein gelbes Haar sie warf,
    Und glaubst du nicht, dass Kummer
    ihr das Herz durchstieß,
    Als sie ab sich wandte und sein Grab verließ?

    Und sie weinte, als sie ihren Nam
    Verwandelt von der schönen Elinor zum süßen William
    Und fortan am Hofe ihres Königs diente
    Als William Flower, der Diener gepriesene Zier.«
    So plötzlich, wie sie ihren Gesang begonnen hatte, schwieg die Taube wieder.
    Lionel hatte während des Liedes keine Furcht verspürt, aber nun erzitterte er unter einer seltsamen Ahnung. Er vergrub das Gesicht in den Händen und betete, dass sich Hirsch, Taube, Schwert, Haus und alle anderen Rätsel als Trugbilder seines erschöpften Verstandes herausstellten. Doch als er die Hände von den Augen nahm, lag alles noch in derselben unirdischen Schönheit vor ihm. Einige letzte rote Sonnenuntergangsfunken flackerten durch die Bäume, glänzten auf dem Gefieder der Taube und verwandelten ihre blutigen Tränen in Rubine. Der Wald umstand sie dunkel; auf der Lichtung war es unnatürlich still. Die herannahende Nacht schien auf Lionels Antwort zu warten.
    Doch der Verstand des Königs war von den Enthüllungen entsetzt und von Rätseln verwirrt. Der süße William, die gepriesene Blume und Zierde der Dienerschaft … Die hübsche Elinor, deren Mutter Räuber ausgesandt hatte und die ihres Heims und ihres Herzens beraubt worden war … In den wenigen holperigen Versen hatte sich wie bei den Kunststücken eines fahrenden Zauberers die eine Person ganz zwanglos in die andere verwandelt. Lionel hatte befürchtet, er sei der unfreiwillige Sklave einer unnatürlichen Liebe. Dass er verliebt war, stand außer Zweifel: Allein Williams Name reichte aus, um ihm das Herz zusammenzuziehen. War denn sein Herz weiser gewesen als seine Augen?
    Lionel schüttelte den Kopf, um wieder einen klaren Gedanken fassen zu können. Die Spannung lockerte sich. Der Abend kroch kühl und blaugrau über die Lichtung. Die Taube schimmerte im Zwielicht wie eine Perle.
    Lionel wusste, dass solche Abenteuer Regeln unterlagen, doch die Gesänge der Poeten teilten nicht mit, was die armen Helden dachten, wenn sie zum ersten Mal von Wundern umgeben waren. Den Liedern der Spielmänner zufolge waren sogar ungelehrte Holzfäller nicht erstaunt, wenn sie von geisterhaften Tieren oder rasenden Magiern befragt wurden. Immer gaben sie auf das wesentliche Stichwort die richtige Antwort. Lionel wurde von plötzlichem Neid auf jene längst verstorbenen Helden ergriffen. All ihre möglichen Schwächen lagen tief im Glanz ihrer Heldentaten begraben. Sie selbst waren vor allen Urteilen geschützt; ihre Rüstung war die Legende. So

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