Die Blume der Diener
leuchteten in den Schatten des Unterholzes. Auf einem Zweig über Lionels Kopf hockte ein kleiner brauner Vogel. Ein Kaninchen duckte sich gegen ein Grasbüschel; ein Dachs spähte hinter einer Baumwurzel hervor. Der Wald war still.
Irgendwo trat ein Huf laut gegen Stein. Dieser Lärm hallte wie eine Herausforderung durch die Stille. Lionel wandte sich in die Richtung des Geräuschs. Am Rande der Lichtung stand stolz ein einjähriger Hirsch. Er war weiß wie Milch und so groß wie des Königs Ross. Sein schlankes Geweih leuchtete silbern wie der Mond. Einen Augenblick lang starrten König und Hirsch einander an, dann sprang der Hirsch gereizt in das Dickicht. Lionel ließ Brot und Käse fallen, kletterte auf das unruhige Pferd und ritt unter Freudenschreien dem flinken, weißen Schatten nach.
Es war eine Jagd wie ein Traum – eine Jagd aus einem alten Lied. Der Hirsch floh durch das dornige Unterholz wie ein Stern – hell und nah und unberührbar. Manchmal schlug er einen Haken und hastete nur eine Speerlänge an seinem Verfolger vorbei, worauf Lionel Glaucus auf den Hinterhufen wendete und seiner Beute nachsetzte. Manchmal blieben Ross und Reiter keuchend stehen, weil der Hirsch ihnen entkommen zu sein schien. Doch dann erhaschte Lionel jedesmal nach kurzer Zeit den Blick auf eine geisterhafte Flanke oder ein zuckendes weißes Ohr und der Hirsch stob erneut davon. Unermüdlich flog er durch den Wald.
Als die Schatten länger wurden, schwärzte sich Glaucus’ Flanke langsam vor Schweiß. Lionels Gesicht schmerzte und blutete von den Peitschenschlägen unzähliger Zweige. Vielleicht dämpfte dieser unfreiwillige Aderlass seine Jagdlust, vielleicht schwächten Hunger oder Müdigkeit seinen Mut. Jedenfalls befürchtete er allmählich, dass nicht der König, sondern der Hirsch diese Jagd gewonnen hatte. Führte ein zauberisches Tier Lionel möglicherweise in sein Verderben? Schließlich wusste niemand, wo genau der Turm der Zauberin lag oder ob er nicht den Launen seiner Herrin von Ort zu Ort folgte.
Lionel zerrte an den Zügeln, doch Glaucus schnaubte nur, schüttelte den Kopf und setzte dem Hirsch weiter nach. Im nächsten Augenblick brachen sie durch eine Dornenhecke und gelangten auf eine weite Lichtung. Das Pferd spreizte die Vorderbeine und hielt an. Lionel schoss vornüber auf Glaucus’ Nacken.
Der König richtete sich auf und schaute sich um. In der Mitte der Lichtung stand der Hirsch unbeweglich vor einer grauen Felswand. Alle Befürchtungen wurden von einer Welle des Triumphes fortgespült. Lionel sprang aus dem Sattel und näherte sich dem Tier. Er hatte seinen Speer zurückgelassen und das Schwert gezogen, als stehe er einem Ritter gegenüber. Der Hirsch hob den Kopf und nahm die Herausforderung an. Er röhrte laut und wild. Dann verschwand er.
Lionel lief zu der Stelle, wo der Hirsch gestanden hatte, und spähte scharf umher. Wo hatte sich das Tier nur versteckt? Bei genauerer Betrachtung stellte sich die Felswand als ein kleines steinernes Haus heraus. Die Tür war aufgebrochen; die Fenster hatten keine Läden mehr. Offensichtlich war dieser Ort vor langer Zeit geplündert worden.
Lionel steckte das Schwert in die Scheide zurück und schaute sich um. Knochen und zerlöcherte Rüstungen lagen verstreut im hohen Gras und auf der Schwelle. Offenbar hatte kein Mitglied des Haushaltes diesen Angriff überlebt. Er wollte gerade die Halle betreten, als er auf einem Grasklumpen neben dem Aufsteigeblock einen Schwertgriff bemerkte. Lionel trat neugierig an ihn heran und erkannte, dass das Schwert auf einem langen Erdhügel lag und diesen wie ein Grabkreuz bewachte.
Rost überzog Griff und Klinge wie altes Blut.
Lionels Knie gaben ein wenig nach. Er setzte sich auf den Aufsteigeblock und verbarg den Blick vor Grab und Haus und Schwert und Wald. Zweifellos war er absichtlich an diesen Ort geführt worden. Demzufolge, was alte Geschichten über solche Ereignisse berichteten, wurde nun eine große Tat von ihm erwartet. Er lächelte bitter hinter vorgehaltener Hand. Er war blindlings ausgeritten auf der Suche nach dem Unbekannten und durfte sich nicht darüber beschweren, dass ihm seine Suche ein Abenteuer statt des erhofften Wildbrets beschert hatte. Er musste diese Gelegenheit ergreifen, denn sonst war er kein richtiger Mann. Der junge König von Albia streckte den Rücken, löste das Schwert in der Scheide und wartete auf weitere Wunder.
Eine Zeit lang hing eine große Stille über der Lichtung und dem
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