Die Blume von Surinam
huschten an ihr vorbei, dann erklangen laute Rufe. Jemand versuchte, sie an den Handfesseln fortzuziehen. Dann ein Schuss, gefolgt von einem Laut wie von einem sterbenden Tier. Stille.
Neben ihr erschienen Stiefel, leisere Stimmen. Sie spürte, wie man sie zudeckte und wie jemand sie auf die Arme hob. Sie wollte schreien, doch kein Laut kam aus ihrer Kehle. Sie wollte sich wehren, doch plötzlich hielten sie Hände ganz fest. Schlanke, lange Finger an einer warmen Hand. Nicht wie die von Baramadir, grob und massiv. Sie öffnete die Augen und blickte in Bogos Gesicht. Er trug sie auf seinen Armen.
»Bringt sie zurück auf die Plantage«, hörte sie noch die Stimme von Masra Jean sagen, dann wurde es wieder dunkel um sie.
»Misi Juliette!« Karini kam um das Haus gelaufen. Julie stand auf der vorderen Veranda und wartete nervös auf die Rückkehr der Männer.
Sofort, nachdem Julie das Tuch gesehen hatte, hatte sie nach Inika suchen lassen. Aber das Mädchen schien wie vom Erdboden verschluckt. Jean hatte einen Suchtrupp zusammengestellt und die Hunde auf die Fährte von Baramadir angesetzt. Noch einmal würde er nicht entkommen. Julie hatte Jean noch nie so aufgebracht erlebt.
»Sie haben sie gefunden, Misi Juliette«, stieß Karini nun atemlos hervor.
Julie atmete erleichtert auf. Ein Schimmer in Karinis Blick verriet Julie aber, dass das nicht allein eine gute Nachricht war. Sie eilte von der Veranda.
»Wo sind sie? Wo ist Jean?«
»Sie sind zum Arbeiterdorf gegangen.«
»Ins Dorf?« Julie rannte los.
»Juliette, warte!« Erika blieb mit Helena auf dem Schoß auf der Veranda zurück.
Im Arbeiterdorf bot sich Julie ein dramatisches Bild. Jean und die Aufseher standen umringt von indischen Arbeitern auf dem Dorfplatz. Dann sah sie in der Mitte Bogo stehen, Inikas reglosen Körper auf den Armen. Für einen Moment glaubte sie, ihr Herz würde aufhören zu schlagen, dann rannte sie zu ihm. Bogos Gesicht war schmerzverzerrt und Tränen liefen in Strömen über seine Wangen. Er wiegte Inika vorsichtig wie ein kleines Kind.
»Oh nein …« Sie widerstand dem Impuls, dem Mädchen über den Kopf zu streicheln, ihre Hände stockten vor dem zerschlagenen Gesicht, das sich ihr darbot. »Oh Gott, was hat er ihr angetan?«
Julie blickte Hilfe suchend in Richtung Jean und zuckte zurück. So hatte sie ihn noch nie gesehen. Er schien tief berührt, zugleich aber sehr entschlossen. Nun trat er vor die Inder.
»Seht her! Seht genau her, was euer Landsmann mit diesem armen Mädchen gemacht hat!« Wütend zeigte er auf Inika. »Ist das der Wunsch eurer Götter? Ist das eure Kultur? Jetzt hört gut zu …«
Drohend, mit seinem Gewehr in der Hand, machte er einen Schritt auf die Versammlung zu und brüllte: »Ich sage euch: Ab heute seid ihr keine Inder mehr, ihr gehört jetzt zu diesem Land, zu meinem Land und zu meiner Plantage! Und wenn noch einmal jemals einer Frau oder gar einem Mädchen auch nur ein Haar gekrümmt wird, hänge ich den Schuldigen persönlich an einen Baum und ziehe ihm bei lebendigem Leib die Haut ab. Habt ihr das verstanden? Habt ihr das verstanden?«
Die Menge schwieg.
»Verschwindet, macht eure Arbeit.«
Die Inder wehrten sich nicht gegen diese Aufforderung und stoben in verschiedene Richtungen davon.
»Jean?« Julie sah ihren Mann verblüfft an.
Dieser drehte sich nur wutschnaubend um, drückte seinem Aufseher die Flinte in die Hand und ging in Richtung Plantagenhaus.
Bogo stand immer noch hilflos mitten auf dem Platz, Inikas schlaffen Körper auf dem Arm.
»Bogo komm, bring sie in das Plantagenhaus, schnell!« Julie zeigte zum Haus, drehte sich um und rief: »Aniga! Aniga!«
Aus der Gruppe der Schwarzen, die diesem Schauspiel beigewohnt hatten, löste sich die alte Heilerin und trat an Bogo und Inika heran. Betroffen warf sie einen Blick auf das Mädchen, dann zu Julie, bevor sie Bogo zum Haus folgte.
Auf der hinteren Veranda hielt Aniga an. »Müssen Mädchen erst waschen, Misi.«
Julie rief nach Karini und Liv, die Inika sogleich behutsam auf ein Laken legten. Aniga wickelte sie aus der Decke und löste die Fesseln von ihren Händen.
Julie stockte der Atem. »Sie … sie lebt doch noch, oder?«
»Sie lebt noch Misi, aber …«, Aniga schlug das letzte Stück Stoff beiseite und weitere schwere Wunden der Misshandlung wurden sichtbar. »Aber kann sein, dass ihr Geist ist tot«, fügte die schwarze Heilerin leise hinzu.
Plötzlich trat Gesine auf die Veranda. »Was ist hier los?
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