Die Blume von Surinam
Erika würde sie zurückschicken und allein im Regenwald würde sie nur wenige Tage überleben.
In ihrer Not hoffte Inika sogar, Karini und die jungen Masras würden bald zurückkehren. In ihrer Gesellschaft hatte sie sich wohlgefühlt. Vielleicht hätte sie dann wenigstens jemanden, mit dem sie reden konnte, auch wenn Karini ihr ganz sicher nicht helfen konnte. Aber die weilte in der Stadt. Was also sollte sie tun? Inika sah keinen Ausweg.
Eine Möglichkeit ergab sich ganz plötzlich Anfang Juni. Zwei Missionare und zwei Schwestern der Herrnhuter Gemeine legten eines Abends mit einem großen Zeltboot und mehreren Ruderern an und machten auf Rozenburg Rast.
Masra Jean begrüßte die Reisenden auf der vorderen Veranda, nicht ohne sich für die Abwesenheit der Misi zu entschuldigen. »Meine Frau ist in anderen Umständen und fühlt sich nicht wohl.«
Inika, die seit Karinis Abwesenheit gelegentlich im Haushalt half, bekam den Auftrag, Getränke für die Gäste zu bringen.
Als sie das Tablett auf den Tisch stellte und aus der Karaffe Wasser mit Orangensaft eingoss, konnte sie nicht umhin, das Gespräch am Tisch zu belauschen.
»Wir werden morgen mit der ersten Flut vor Sonnenaufgang wieder aufbrechen. Haben Sie Dank, Mijnheer Riard, dass wir bei Ihnen übernachten dürfen.«
Mit der ersten Flut vor Sonnenaufgang hallten die Worte in Inikas Kopf wider. Vielleicht war das ihre Chance! Vor Aufregung bekam sie eine Gänsehaut. Ihr wurde heiß und kalt, und sie musste sich zusammenreißen, das Zittern ihrer Hand unter Kontrolle zu halten.
Sie brachte die Karaffe wieder in den Küchenbereich und begab sich auf Anweisung von Kiri zum Gästehaus, um die Zimmer herzurichten. Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft auf der Plantage Rozenburg betrat Inika wieder die schönen Räume. Schmerzlich erinnerten sie die sauberen Zimmer und die weißen, weichen Betten an die kurze, schöne Zeit, die sie bei Misi Erika gehabt hatte. Dieses Leben schien eine Ewigkeit entfernt zu sein. Und jetzt? Jetzt bestand ihr Leben aus dem vollkommenen Gegenteil. Inika strich verbittert über die Laken. Wenn sie hier fertig war, würde sie zurückmüssen in Baramadirs Hütte. Er war sicherlich wütend, weil sie bei seiner Rückkehr aus den Feldern nicht auf ihn wartete. Dass sie auf Geheiß von Masra Jean im Haus geholfen hatte, zählte für ihn nicht als Argument. Inika schauderte bei dem Gedanken an das, was ihr heute noch widerfahren würde. Und morgen. Und übermorgen. Und an allen anderen Tagen, die sie hier auf der Plantage verbrachte. Nachdenklich verrichtete sie ihre Tätigkeiten, strich wiederholt die Laken glatt, stellte Schüsseln und Waschkannen parat. Nein, das wollte sie nicht mehr. Nie wieder wollte sie einen Fuß in Baramadirs Hütte setzen, nie wieder diese Gewalt erfahren, die Demütigung. Und es gab nur eine Lösung: Sie musste fort. Vielleicht gelang es ihr ja, irgendwo ein anderes Leben zu führen, auf einer der Plantagen im Hinterland, oder vielleicht doch bei Misi Erika, aber auch wenn sie die Flucht nicht schaffen und vielleicht gar sterben würde, war das allemal besser, als jede Nacht unter dem schwitzenden und stinkenden Körper dieses Mannes zu liegen. Alles in ihr wehrte sich gegen den Gedanken, noch einen Tag länger auf Rozenburg zu bleiben.
Und jetzt, da sie die Betten für die Gäste bereitete, nahm ein Plan in ihrem Kopf Gestalt an. Die Gäste kamen ihr wie gerufen. Die Herrnhuter waren christliche Missionare, sie würden ihr nichts tun. Wenn Inika es nur bis auf das Schiff und weit fort von der Plantage schaffen würde …
Sie eilte sich, ihre Arbeit fertigzustellen, und entschuldigte sich bei Kiri unter dem Vorwand, ihr sei nicht gut. Vorsichtig schlich sie in den Garten und versteckte sich hinter einigen Büschen, bis ihre Mutter und Kiri nicht mehr auf der hinteren Veranda zu sehen waren. Dann lief sie um das Plantagenhaus herum. Erleichtert stellte sie fest, dass auch die vordere Veranda inzwischen leer war, vermutlich hatte sich Masra Jean mit den Gästen in den Salon zurückgezogen. Misi Juliette hatte ihr Schlafzimmer den ganzen Tag nicht verlassen, und die Ruderer des Bootes waren schon vor Stunden in Richtung Arbeiterdorf gegangen.
Inika huschte im Schutz der langen Schatten der Büsche und Palmen am Rand des Gartens zum Flussufer. Dort lag sicher vertäut das Zeltboot der Herrnhuter. Vorne im Bug war allerlei Gepäck verstaut, das nun mit Planen abgedeckt war. Inika hatte keine Ahnung, wohin die Reise
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