Die Blumenweberin: Roman (German Edition)
Schwester!«
Die fröhliche Ovation wurde mit lautem Beifall bedacht, dann erhob sich der König, breitete die Arme aus und erklärte die Spiele für eröffnet.
Die Aufgabe im ersten Wettbewerb bestand darin, den Tempel der Liebe zu erobern. Im Hintergrund des Spielfelds hatte man einen künstlichen Tempel als Kulisse errichtet.
Seit dem Mittelalter sahen die Spielregeln vor, dass die einzelnen
Mannschaften Berge und andere Hindernisse überwinden, in Städte einfallen und Schlösser belagern mussten, um schließlich als Sieger in den Venustempel einzuziehen. Mittlerweile hatte sich die mittelalterliche Tradition der Kampfspiele jedoch hin zu mehr Phantasie und Dramatik entwickelt.
Vor lauter Spannung schien das Publikum, das sich auf den Rängen drängte, nicht mehr zu merken, wie kalt es war.
In einem Lager stellten drei Gruppen von je sechs Reitern Mut, Stolz und Stärke dar. Die Gruppen im anderen Lager verkörperten die Eigenschaften Anstand, Tugend und Moral.
Sieger war die Gruppe, die am Schluss wohlbehalten den Eingang zum Venustempel erreichte, nachdem sie die verschiedenen Hindernisse überwunden hatte.
Und diese Hindernisse waren enorm! In voller Ausrüstung mussten die Ritter Dianas Palast angreifen, Circes Listen entgehen und Plutos Blitze durchqueren.
Mal mit Hellebarden, mal mit Lanzen, Schwertern, Hakenbüchsen oder Pfeilen bewaffnet, trieben die Ritter, die aus ganz Frankreich angetreten waren, ihre ungestümen Pferde an und durften dabei weder stürzen noch sich verletzen.
Die Valois, die Burgunder und die Normannen verteidigten Mut, Stolz und Stärke; Anstand, Tugend und Moral wurden von den Adelsfamilien der Bretagne und der Aquitaine verteidigt.
Als die Kombattanten an den Tribünen vorbeiritten, warf Marguerite ihr Fähnchen dem Ritter zu, der den Anstand verkörperte, Claude warf ihres dem Ritter des Mutes zu.
Als auch die anderen Prinzessinnen und Hoffräulein ihre Wimpel geworfen hatten, defilierten die Ritter zu Trompetenklängen, und es regnete Blumen, die unter den Hufen der Pferde landeten.
Im Prolog zu den Ritterspielen gab es lange, epische Vorträge, gefolgt von Tänzen der Musen mit den Göttern der griechischen Mythologie.
Schließlich begann das eigentliche Schauspiel. Mit heruntergelassenem Visier und Kettenhemd ritten die Kavaliere ihre Pferde mit meisterhaftem Können, das sie in langjähriger Kampferfahrung erworben hatten. Immer wenn einer vorbeipreschte, wirbelte er jede Menge Staub auf, und es dauerte eine Weile, bis man erkennen konnte, wer der Reiter war.
Die einzelnen Lager lieferten sich einen erbitterten Kampf. Manchmal stürzte ein Pferd, schwer verletzt, manchmal ein Reiter. Ob sie wieder auf die Beine kamen oder nicht, die Ritter waren in jedem Fall disqualifiziert. Stöhnen mischte sich ins Kampfgeschrei.
»Ist Euch kalt, Marguerite?«
Überrascht drehte sich die junge Frau um, die gerade beobachtet hatte, wie Cupidos Pfeil die blutbefleckte Brust eines bretonischen Ritters durchbohrte.
Bonnivet stand hinter ihr, der große Junge, der ihr schon lange hartnäckig nachstellte und damit prahlte, der beste Freund ihres Bruders zu sein, was auch tatsächlich stimmte, weil er bereits seine rechte Hand war.
Bonnivet war ein großer Verführer und sehr verliebt in Marguerite, weshalb er keine Gelegenheit ausließ, ihr zu gefallen, vor allem auch, weil er ihr, als sie fast noch Kinder waren, ein paar unschuldige Küsse geraubt hatte.
Leider hatte ihn das Schicksal eines Besseren belehrt. Hielt er sich an die Anstandsregeln, durfte er ihr nur äußerst harmlos den Hof machen, was ihn jedoch in keiner Weise zu beeinträchtigen schien.
Im Übrigen wusste jeder, dass Bonnivet ganz ungeniert hinter den Dienstmädchen im Schloss her war. Dass er sich Marguerite gegenüber zurückhaltender zeigte, lag zum einen an der Tatsache, dass sie François’ Schwester war, zum anderen an ihrer strikten Weigerung, sich irgendwie auf derlei Spielchen mit ihm einzulassen.
Bonnivet hatte, wie zumeist, ein breites Lächeln auf den Lippen, und die strenge Falte auf seiner Stirn rührte gewiss nicht von irgendwelchen Ängsten. Angesichts seines sorglosen, fröhlichen und genießerischen Temperaments, in dem er François sehr ähnlich war, konnte man sich gut vorstellen, dass die beiden viele Gemeinsamkeiten hatten.
Einen großen Unterschied gab es aber doch zwischen François und Bonnivet: Der hatte nämlich schon mehr als ein Mädchen genötigt, während der Duc de Valois nur
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