Die Blumenweberin: Roman (German Edition)
die Kinder in die Arme und gab ihnen einen Kuss.
»Du hast ganz recht, Nicolas. So ist es.«
Valentine wollte wieder vom Bett, verfing sich mit den Beinchen in der Steppdecke und fiel auf den Boden. Nicolas half ihr sofort wieder auf die Füße. Valentine hatte sich zum Glück nicht wehgetan, und sie lachten beide, bis Tania an der Tür erschien.
»Ach, Tania, da bist du ja. Komm herein. Ich muss mit dir reden. Wo warst du denn? Ich dachte, du wärst hier, wenn ich nach Hause komme.«
»Ich wusste nicht, dass Ihr so früh zurück seid. Ich war in der Werkstatt.«
»Bei Philippe?«
Tania wurde rot. Seit Alix ihr nachmittags freigegeben hatte, brachte ihr der junge Mann auf einem Flachwebstuhl das Weben bei, und Tania war überglücklich.
Wollte man einem das Weben beibringen, musste man ihm die Hand halten, damit sie den Schussfaden nicht verlor. Der Meister musste sich äußerst aufmerksam um seinen Schüler kümmern, also zum Beispiel hinter ihm stehen und ihn mit Worten
oder Gesten anleiten. Da konnte der Lehrer schon mal in Versuchung geraten, seine Schülerin auf den Nacken zu küssen. In gewisser Weise war es also für einen Weber, wenn er frei war, relativ einfach, einem jungen Mädchen den Hof zu machen, wenn sie nichts dagegen hatte.
»Nicolas, mein Engel, geh mit Valentine spielen. Ich komme heute Abend und gebe euch einen Gutenachtkuss, ehe ihr einschlaft.«
»Versprochen?«, fragte Nicolas.
»Versprochen!«
Als sich die Kinder getrollt hatten, kam Alix ohne Umschweife zur Sache.
»Ich habe Byzance gesehen, Tania«, begann Alix mit ruhiger Stimme und ganz freundlich, um das Mädchen nicht zu verschrecken.
»Oh!«, machte Tania nur. Damit hatte sie nicht gerechnet.
Alix entging nicht, dass ihre Hände zitterten, als sie die Arme sinken ließ, und dass ihre kleine Freundin plötzlich sehr blass war.
»Wo ist Théodore?«
Alle Farbe wich aus Tanias Gesicht, und als Alix sie fragend und besorgt ansah, begann sie zu schlucken, ihre Augen füllten sich mit Tränen, und sie schluchzte laut los.
»Er ist tot.«
Alix war wie vom Donner gerührt. Mit dieser Antwort hatte sie natürlich nicht gerechnet, und sie wusste nicht, ob sie sie glauben sollte.
»Kann ich dir noch vertrauen, oder versuchst du deinen Bruder vor meinen und den Nachforschungen der Polizei zu schützen?«
»Ich schwöre es, Dame Alix, er ist wirklich tot.«
Ihr Schluchzen und ihr Kummer wirkten echt, aber weinte sie wirklich um ihren toten Bruder? Alix wusste, dass Théodore großen Einfluss auf seine Schwester gehabt hatte und er sie zu allem überreden konnte.
»Komm her«, sagte Alix und nahm Tanias Hand. »Setz dich zu mir und erzähl mir die ganze Geschichte.«
Tania beruhigte sich etwas, wischte sich die Tränen aus den Augen und nickte, obwohl sie nicht vorhatte, die ganze Geschichte zu erzählen.
»Ich habe ihn ab und zu getroffen und ihm ein bisschen Geld gegeben, damit er sich etwas zu essen kaufen konnte. Er wohnte in einer leer stehenden Scheune. Er wurde in einen …«
Tania schniefte.
»In einen was?«, fragte Alix nach.
»Er wurde in einen Streit verwickelt. Die anderen waren stärker als er.«
»Warst du dabei?«
Sie nickte nur.
»Was hast du mit seinem Leichnam gemacht?«
»Théo war in einem Boot. Er hat einen Schlag auf den Kopf bekommen und ist ins Wasser gestürzt. Und weil er nicht schwimmen kann, ist er ertrunken.«
»Du kannst aber doch schwimmen! Warum bist du ihm nicht zu Hilfe geeilt?«
Tania war verwirrt. Ja, Alix hatte recht. Ihr Bruder fürchtete sich von klein auf vor Teichen, Seen, Flüssen und Wasser überhaupt, während sie wie eine Flussnymphe in den großen künstlichen Seen um den Palast in Konstantinopel geschwommen war. Natürlich hätte sie ihm helfen können.
»Ich ... Ich konnte nichts machen. Die anderen haben mich festgehalten.«
Alix nickte nachdenklich. Sie hatte den Eindruck, dass Tania ihr zwar die Wahrheit sagte, ihr aber auch einen Teil verschwieg.
»Und was ist mit Byzance?«
»Ich wollte mit Euch darüber reden, aber ich wusste nicht, wie ich es anfangen sollte. Ich dachte …«
»Was ist mit dem Pferd?«, unterbrach sie Alix. »Weißt du, wo Byzance ist?«
»Ja.«
»Das Pferd gehört mir, Tania. Dein Bruder hat es mir gestohlen, als er geflohen ist. Außerdem ist dieses Rennpferd von ungeheurem Wert.«
Aufmerksam musterte sie Tanias Gesicht, um herauszufinden, welches Detail sie ihr verschweigen mochte.
»Nachdem Léo noch nicht zurück ist, mach dich
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