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Die blutende Statue

Die blutende Statue

Titel: Die blutende Statue Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Bellemare
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von ständigen Kriegen geschüttelten Balkan mehrere Tage, bis Botschaften ihre Empfänger erreichten.
    Kurz und gut, mitten in der Nacht brach Essad Pascha an der Spitze der Leibwache die Türen zu den königlichen Gemächern auf. Natürlich traf er den Herrscher und seinen Ratgeber in weiblicher Gesellschaft an. Dieses Mal bekam es Otto Witte mit der Angst zu tun. Die Soldaten umringten ihn drohend und Essad Pascha beschimpfte ihn lautstark. Doch unser Mann hatte Schlimmeres erlebt. Mit beispielloser Kaltblütigkeit wandte er sich an die Wachen: »Verhaftet diesen Verräter!«
    Dabei zeigte er auf Essad Pascha.
    »Die Montenegriner haben ihn bestochen, den Krieg zu verhindern. Im Namen Albaniens befehle ich euch, ihn festzunehmen! Vertraut ihr eurem König etwa nicht? Habe ich euch nicht meine Großzügigkeit bewiesen?«
    Die Soldaten zögerten. Sie waren ahnungslos und wussten nichts von dem ganzen Schwindel. Zuerst hatten sie geglaubt, Essad Pascha habe sie zu einer Palastrevolution zusammengetrommelt. Doch nun behauptete ihr König, derselbe König, der sie so gut behandelt und jedem zehn Goldstücke geschenkt hatte, Essad Pascha sei ein von Montenegro bezahlter Verräter.
    Einmütig liefen die Soldaten darum zur Gegenseite über. Otto Witte konnte sie sogar nur mit Mühe davon abhalten, dem Armeeoberhaupt zum Beweis ihrer Treue auf der Stelle den Kopf abzuschlagen. Der arme Essad Pascha wurde windelweich geprügelt und landete im feuchtesten Verlies des Palastes.
    Otto und Max waren jedoch schlau genug, um zu merken, dass sich der Wind gedreht hatte. Mit Hilfe der jungen Albanerinnen, die ganz auf ihrer Seite standen, legten sie Frauengewänder an und schlichen sich als tief verschleierte Mohammedanerinnen aus dem Palast.
    In Durazzo konnten sie unschwer einen italienischen Sardinenfischer überreden, sie nach Bari überzusetzen. Dazu muss man sagen, dass sie einen Großteil des albanischen Staatsschatzes bei sich hatten.
     
    Nach dieser beispiellosen Leistung kehrten Otto Witte und Max Schlepsig, die das restliche Gold bald verprasst hatten, zum Zirkus zurück, der eine als Clown, der andere als Schwertschlucker.
    Als Nebenverdienst oder ganz einfach nur zum Vergnügen posierte Otto Witte noch lange für die Fotografen als Otto I. von Albanien. In kriegerischer Haltung, ausstaffiert mit seiner Paradeuniform, dem roten
    Fez, den Fantasieorden und der regenbogenfarbenen Schärpe, stand er dann auf den Stufen seines kleinen Wohnwagens.
    Otto Witte starb am 13. August 1958, auf den Tag genau fünfundvierzig Jahre nach seiner Krönung. Eines kann man jedenfalls mit Sicherheit behaupten: Wenn er tatsächlich regiert hätte, hätte er nie so lange gelebt.
     

Ein teures Billigmodell
     
    London 1954. An einem schönen Sommertag studierte eine weltberühmte Persönlichkeit in einem Luxusappartement die internationale Presse. Alle wirtschaftlichen Probleme, alle potenziellen Kriegsschauplätze auf der Welt interessierten ihn, den Herrscher eines wichtigen afrikanischen Landes, brennend. Seine Majestät, der »Negus«, also der Kaiser von Äthiopien, Haile Selassie, hielt sich in London auf. Da sein Besuch jedoch nicht offiziell war, hatte er sich in einem sehr vornehmen Viertel in einer Wohnung außerhalb der Botschaft niedergelassen.
    Die Londoner Zeitungen hatten seine Ankunft angekündigt und, als Gipfel der Indiskretion, sogar die genaue Adresse seines Aufenthaltsortes angegeben. Dies war Philip Sanders, einem tatkräftigen Brillenvertreter, nicht entgangen. Er verglich Äthiopien, diese von der Sonne begünstigte Region, mit England. Wenn es einen Ort auf der Welt gab, wo man Sonnenbrillen brauchte, dann wohl in Äthiopien. Und wenn es dort jemanden gab, der auch die Mittel besaß, sich eine Luxussonnenbrille zu leisten, dann konnte das nur der Herrscher des Landes sein.
    Am nächsten Tag sprach Philip im Belgravia-Viertel bei der Adresse, die er sich notiert hatte, mit einem Aktenkoffer vor. Er hatte seinen besten Anzug ausgewählt und erschien mit Schuhen, die auf Hochglanz poliert waren. Er betätigte die Klingel und wartete, bis ein Bediensteter ihm öffnete. Das darauf Folgende spielte sich mit erstaunlicher Leichtigkeit ab. Man fragte ihn nach dem Grund seines Besuchs und er behauptete, er müsse den Negus in einer persönlichen Angelegenheit sprechen. Dies wurde dem so genannten »Rais« gemeldet, der sich, weit entfernt von seinem üblichen höfischen Umgang und in (unverhoffter) Abwesenheit seines

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