Die blutende Statue
Montenegriner neben vielen anderen Fehlern auch den, dass sie sehr viel zahlreicher waren als die Albaner. Ihre Armee war viel zu stark, als dass man auch nur daran hätte denken können, sie anzugreifen. Aber wenn Halim Eddine, der Neffe des Sultans, ihnen den Krieg erklärte, dann stand die ganze Türkei dahinter. Das Kräfteverhältnis war also auf einmal völlig umgekehrt. Das bedeutete nicht mehr und nicht weniger als Montenegros Ende.
Die Albaner strömten durch die Straßen von Tirana und schossen in die Luft. Halim Eddine wurde lauthals bejubelt. Dazu diese reizende, noble Idee, sich einfache Mädchen aus dem Volk ins Bett zu holen. Darüber war man zu Tränen gerührt.
Am 13. August 1914 kam dann der glorreiche Tag. Der erste König von Albanien wurde gekrönt. Die führenden Persönlichkeiten des Landes konnten ihn gar nicht genug rühmen. In seiner großen, zweifellos von Allah eingegebenen Weisheit beschloss Halim Eddine, sich unter einem europäischen Namen krönen zu lassen: Otto I. Die in London verhandelnden Großmächte würden sich über dieses Zugeständnis freuen und man hätte so nichts mehr von ihnen zu befürchten.
Zum Krönungsfest von Otto I. stiegen die Stammesoberhäupter des ganzen Landes von den Bergen herab. Albanien war nämlich in eine Unzahl lokaler Machtbereiche gespalten, die sich seit Jahrhunderten untereinander bekämpften. Doch zum ersten Mal trafen sie sich jetzt alle mit ihren langen schwarzen Bärten, den Patronengurten über der Brust und in ihrer Festtracht aus Pluderhosen und Quastenschuhen.
Nach der religiösen Zeremonie in der großen Moschee fand ein beispielloses Festessen statt. Halbe Rinder, Schafe und Lämmer wurden wie bei einem gigantischen Grillfest gebraten. Es gab auch die köstlichsten Seeforellen und Flusslachse, die auf dem ganzen Balkan berühmt waren.
König Otto I. und sein Ratgeber aßen mit einem Appetit, der alle Gäste entzückte. Doch noch während der neue Herrscher schlemmte, begann er bereits, sein königliches Amt auszuüben. Mit unendlicher Aufmerksamkeit und Geduld lauschte er den Klagen seiner Gäste, der Stammesoberhäupter. Da sie seit Jahrhunderten in ewiger Fehde miteinander lagen, brachte jeder eine eindrucksvolle Liste an Beschwerden über seine Rivalen vor. Aber als frisch gebackener Politiker kannte Otto I. ein absolut unfehlbares Mittel, alle Streitigkeiten beizulegen. Er verteilte an alle Gold, das er natürlich aus dem albanischen Staatsschatz schöpfte.
Die Gäste waren verblüfft und entzückt, zumal alle Würdenträger des Landes in den Genuss der Freigebigkeit Ottos I. kamen. Selbst die Soldaten seiner Leibwache erhielten zehn Goldstücke pro Kopf.
Otto I. von Albanien und sein Ratgeber verweilten nicht lange beim Krönungsfest. Sie konnten sich einfach nicht an diese Festessen gewöhnen, bei denen kein Tropfen Alkohol ausgeschenkt wurde. Darum hatten sie es eilig, zu ihrem Schnapsvorrat zurückzukehren.
Bei ihrer Rückkehr im Palast erwartete sie allerdings eine ganz andere Überraschung. Die Anwärterinnen für den königlichen Harem waren eingetroffen und wollten ihnen zu Diensten sein. Es gab ein echtes Gedrängel, eine weibliche Springflut, die die Wache nur mit Mühe eindämmen konnte.
Da die Zusammenstellung des königlichen Harems damit zur vordringlichsten Aufgabe wurde, beschloss Otto I., sich ihr auf der Stelle zu widmen. Die Verantwortung für alle laufenden Regierungsgeschäfte übertrug er darum vorläufig Essad Pascha.
Für alle, die sich fragen, wie eigentlich ein Harem zusammengestellt wird, schildere ich hier die Methode, die Otto I. und sein Ratgeber entwickelt haben.
In einem Schlafzimmer des Palastes traf Max Schlepsig zunächst einmal eine »Vorauswahl« unter den Bewerberinnen. Anschließend führte er die Mädchen, die diese Prüfung zur Zufriedenheit bestanden hatten, ins Zimmer des Herrschers zu einem zweiten Test, der auch »Endausscheidung« genannt wurde. Diese Prozedur dauerte zwei Tage oder, um genau zu sein, zwei Tage und zwei Nächte, in denen sich Seine Majestät und sein Ratgeber jede Störung verbaten.
Aber selbst die schönsten Dinge nehmen einmal ein Ende.
In der Nacht zum 15. August erhielt Essad Pascha ein Telegramm vom echten Halim Eddine, in dem dieser im Großen und Ganzen erklärte, er sei seines Wissens nie zum König von Albanien ausgerufen worden. Dass diese Nachricht erst so spät eintraf, mag uns heute unglaubwürdig erscheinen, aber damals dauerte es vor allem auf dem
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