Die blutende Statue
aufgeführt hatte. Er musste die unrechtmäßig erworbene Summe ersetzen und sich schriftlich bei dem Herrscher entschuldigen. Dieser behielt seine neue Brille, für die er letztendlich doch einen normalen Preis bezahlt hatte.
Wer den Pfennig nicht ehrt
»Wer den Pfennig nicht ehrt, ist des Geldes nicht wert.«
»Ich weiß, Monsieur Durand. Aber wir haben Sie doch entschädigt und die fünf Centimes (etwa 0,08 Euro-Cents) auf Ihrem Konto gutgeschrieben.«
»Das reicht nicht. So etwas ist beunruhigend. Ich verlange eine Untersuchung!«
»Aber Monsieur, das wäre wohl doch etwas übertrieben.«
»In der Buchhaltung kennt man das Wort übertrieben nicht. Ein Irrtum über fünf Centimes ist so schlimm wie ein Irrtum über fünf Millionen. Das bedeutet, dass etwas nicht stimmt. Also, veranlassen Sie jetzt eine Untersuchung?«
»Offen gestanden haben wir dazu wirklich keine Zeit, Monsieur Durand.«
»Das werden Sie bereuen! Lösen Sie mein Konto auf. Ich verlasse Ihr Geldinstitut.«
Zum ersten Mal vergaß der Bankdirektor alle Höflichkeit.
»Mit Vergnügen! Und im Gegensatz zu dem, was Sie sagen, bereuen wir es nicht im Geringsten.«
Darauf deutete Monsieur Durand ein Lächeln an und erwiderte mit schriller Stimme: »Sie haben nicht richtig verstanden. Als ich sagte >Das werden Sie bereuen<, meinte ich damit, dass das Folgen hat. Sie hören noch von mir.«
Der Direktor zuckte nur mit den Schultern und unternahm alle nötigen Schritte, um das Konto aufzulösen. Sorgfältig prüfte Monsieur Durand die vorgelegten Zahlen und verglich sie mit seinen eigenen Berechnungen, die er mitgebracht hatte. Dazu muss man wissen, dass das sein Beruf war. Zumindest war er das früher einmal. Nach vierzig Jahren treuer Dienste als Buchhalter in einem großen Pariser Kaufhaus lebte der mittlerweile fünfundsechzigjährige Monsieur Durand im Frühjahr 1990 längst im Ruhestand.
Nachdem Monsieur Durand alles zu seiner Zufriedenheit überprüft hatte, unterschrieb er die Auflösung seines Kontos und ging grußlos mit dem ihm zustehenden Geld einschließlich einer kleinen, goldenfarbenen Münze, den fünf Centimes, die man ihm dank seiner Hartnäckigkeit gutgeschrieben hatte.
Nachdem er verschwunden war, stieß der Direktor einen Seufzer der Erleichterung aus. Er glaubte, die alte Nervensäge — um kein unanständiges Wort zu benutzen — endgültig los zu sein. Doch da irrte er sich gewaltig. Monsieur Durand hatte keine leeren Drohungen ausgestoßen. Der Bankdirektor sollte noch von ihm hören. Und zwar wie!
»Wollen Sie mir etwa sagen, dass Sie Anzeige erstatten wollen, nur weil Ihnen fünf Centimes gestohlen wurden?«
»Genau deswegen bin ich hier.«
Inspektor Lucchino vom Hauptkommissariat des fünfzehnten Pariser Stadtbezirks wusste nicht, ob er lachen oder schimpfen sollte.
»Das ist doch nicht Ihr Ernst? Soweit ich verstanden habe, hat die Bank Ihnen die fünf Centimes zurückgezahlt.«
»Die Erstattung einer gestohlenen Summe hebt das Delikt nicht auf. Ich erstatte Anzeige. Nehmen Sie das bitte zu den Akten.«
»Glauben Sie, ich habe nichts Besseres zu tun?«
»Ist das Ihr letztes Wort?«
»Ja. Und machen Sie, dass Sie wegkommen!«
Dieses Mal drohte Monsieur Durand nicht. Einem Polizisten droht man schließlich nicht so einfach. Mit ruhiger, nur ein wenig schriller Stimme erwiderte er: »Na gut.«
Ein Monat verstrich. Inspektor Lucchino bat um ein Gespräch mit dem Direktor der Filiale, bei der Monsieur Durand Kunde gewesen war. Der Bankier fiel aus allen Wolken, als er den Gegenstand des Besuchs erfuhr.
»Wollen Sie damit etwa sagen...?«
»Genau. Er hat sich einen Anwalt genommen und ein Verfahren angestrengt. Wir sind gezwungen, dem nachzugehen.«
»Wegen fünf Centimes bezahlt er teure Anwaltskosten?«
»Was wollen Sie? Wenn er seine Zeit und seine Rente dafür verschwenden will, können wir das nicht verbieten.«
Der Direktor stieß einen Seufzer aus.
»Gut, was wollen Sie wissen?«
»Welcher Angestellte Ihrer Filiale hat diesen Irrtum von fünf Centimes womöglich begangen?«
»Das waren nicht wir, sondern die Hauptgeschäftsstelle. Es handelt sich um die Zinsen für ein Sparkonto. Die werden immer dort berechnet.«
»Von wie vielen Angestellten?«
»Ach, nur ganz wenigen.«
»Und hier überprüft man sie nie?«
»Das ist völlig unmöglich. So was würde zu viel Zeit in Anspruch nehmen. Sehen Sie selbst.«
Der Bankier ließ auf seinem Computerbildschirm die Zahlen eines Kontos
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