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Die blutende Statue

Die blutende Statue

Titel: Die blutende Statue Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Bellemare
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Adjutanten, einer etwas ungewöhnlichen Situation gegenübersah. Allerdings war seine Neugier mittlerweile geweckt und da er nichts Besseres zu tun hatte, war er bereit, den Brillenvertreter zu empfangen, obwohl eine gewisse Widersprüchlichkeit über das genaue Motiv des Besuchs dieses Unbekannten bestand (die Naivität der Großen dieser Welt ist groß, wenn sie mit den Banalitäten des Alltags konfrontiert sind). Und so geschah es, dass der Brillenvertreter, gegen alle Wahrscheinlichkeit, beim König der Könige vorgelassen wurde.
    Philip Sanders war erstaunt, als man ihn in den luxuriösen Salon geleitete, in dem der Herrscher in einem Queen-Ann-Sessel saß, der im Gegensatz zu dem schmächtigen König riesig wirkte. Eigentlich versprach sich Sanders von diesem Besuch nicht allzu viel. Er hatte ihn eher aus Lust am Spiel angestrebt, um zu erleben, mit welchen Worten man ihn hinauskomplimentieren würde, und da stand er nun plötzlich wie durch ein Wunder vor einem sonst unerreichbaren Herrscher.
    Doch der Brillenvertreter ließ sich nicht aus der Fassung bringen. Er begrüßte den Herrscher weltmännisch und legte ihm mit gewählten Worten den Grund seines Besuchs dar. Da er in London Alleinvertreter für die berühmte Brillenmarke W. sei und wisse, dass es dafür keine Niederlassung in Äthiopien gebe, habe er sich erlaubt, um diese Unterredung zu ersuchen, damit Seine Majestät die neuesten Modelle mit den besonders leistungsstarken Gläsern aus nächster Nähe besichtigen und eventuell eine Brille erwerben könne, die seiner würdig sei. Seine Majestät nickte zustimmend und wartete ab.
    Im Handumdrehen hatte Sanders seinen Musterkoffer geöffnet und eine ganze Palette von Sonnenbrillen für Herren auf dem Schreibtisch des Kaisers ausgebreitet. Die Modelle reichten von den rein klassischen zu den ausgefallensten — in Horn, vergoldet, versilbert, unauffällig und extravagant. Schließlich hatte er keine Ahnung, welche Brillenart dem König der Könige zusagen und gefallen würde. Und wenn er die ganze Kollektion nehmen würde? Und wenn er hundert Brillen für seine ganze Familie bestellen würde oder vielleicht tausend für seinen ganzen Hofstaat, zehntausend für seine gesamte Armee? Sanders geriet ins Träumen. Haile Selassie nahm jedes Modell in die Hand, stellte einige Fragen, erhob sich, trat ans Fenster und blickte hinaus. Ausnahmsweise schien die Sonne über London. Plötzlich verkündete er mit einem liebenswürdigen Lächeln: »Ich nehme diese.« Sanders schluckte. Dann erkundigte sich der Herrscher, wie es nicht anders zu erwarten war: »Und was kostet sie?«
    Bis jetzt handelte es sich lediglich um ein ungewöhnliches, aber korrektes Geschäft ohne den Hauch einer Betrugsabsicht.
    Doch in dem Augenblick, da der Negus seine Wahl getroffen hatte, begriff Sanders, dass er nur eine kleine, unscheinbare Brille verkaufen würde, die lediglich ein paar Pfund kostete, ein Billigmodell sozusagen. Sollte er sich wirklich mit dieser lächerlichen Summe begnügen, die ihm zudem nur einen winzigen Bruchteil als Provision einbrachte? Der Negus, der darauf wartete, dass Sanders ihm den Preis nannte, hatte bereits eine Schublade des Schreibtischs aufgezogen und Sanders sah ein Bündel Banknoten. Wie im Traum hörte er sich selbst eine Riesensumme nennen, einige hundert Pfund. Ohne mit der Wimper zu zucken, zählte der König den geforderten Betrag ab und gab ihm das Geld. Dann setzte er die Brille auf sein dunkelhäutiges Gesicht und bedankte sich bei Sanders, dass er sich die Mühe gemacht hatte, ihn aufzusuchen. Die Unterhaltung war beendet. Und der schlaue Vertreter stand anschließend wieder auf der Straße.
    Einige Minuten später traf der Adjutant des Herrschers ein und bemerkte mit einem Blick die neue Brille auf dem Schreibtisch. Er erkundigte sich danach und das Blut gefror ihm in den Adern, als er erfuhr, dass ein Unbekannter beim König vorgelassen worden war und ohne Zeugen mit diesem gesprochen hatte. Es hätte ja auch ein Mörder oder ein Dieb sein können. Man war also knapp einer Katastrophe entgangen. Aus Neugier fragte er den Negus, wie er die Brille bezahlt habe, und erfuhr dabei den Preis. Die Höhe des Preises verschlug ihm fast den Atem.
    Nach ein paar Wochen wurde Sanders, der sich gehütet hatte, seine Visitenkarte zu hinterlassen, anhand der Brillenmarke identifiziert. Er musste zugeben, dass er den Negus übervorteilt und überdies dieses Riesengeschäft auch nicht in seinem Wochenbericht

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