Die blutende Statue
weil ich ein gutes Gedächtnis habe, habe ich mir alles gemerkt.«
»Wann kam Ihnen die Idee zu diesem Schwindel?«
»Das war nicht vorsätzlich, das schwöre ich. Auf dem Heimweg nach Sagias kam ich an Artigat vorbei. Da hörte ich einen Bauern rufen: >Da kommt ja Martin Guerre!< Zu Hause war ich nur ein Nichtsnutz, ein Habenichts, ohne Familie und ohne Frau. Darum war die Versuchung zu groß.«
»Und Bertrande?«
»Die habe ich wie alle anderen getäuscht.«
Der Richter hakte nicht weiter nach. Genauso hielt es übrigens auch die Justiz. Bertrande Guerre wurde nicht des Ehebruchs angeklagt und die Tochter, die sie von Arnaud du Thil bekommen hatte, wurde für ehelich erklärt, damit sie nicht die Folgen für die Schuld eines anderen tragen musste.
Arnaud du Thils Hinrichtung fand kurz darauf in Artigat statt. Als er nur im Hemd, barfüßig, ein Seil um den Hals und unter den Schmähungen der Dorfbewohner, die ihm seine Täuschung nicht verziehen, durch die Straßen geführt wurde, bewies er großen Mut. Nachdem er vor der Kirche Abbitte geleistet hatte, wurde er zum Galgen gebracht. Der stand unmittelbar vor dem Haus der Familie Guerre, das so lange auch seines gewesen war. Vor den Augen des Einbeinigen, der lächelnd auf der Schwelle stand, knüpfte man ihn auf und warf die Leiche auf einen gleich daneben errichteten Scheiterhaufen. Den Geruch des Qualms spürte man noch viele Tage später im ganzen Haus.
Bertrande hatte sich versteckt, um der Hinrichtung nicht beiwohnen zu müssen. Ihr Leben war ebenso zu Ende wie das von Arnaud. Es sei denn, man kann das ein Leben nennen, an der Seite des echten Martin Guerre dahinvegetieren zu müssen. Dieser war genauso einfältig und stumpfsinnig geblieben wie früher. Darüber hinaus hatten ihn seine Behinderung und die Untreue seiner Frau gehässig gemacht.
Bertrande hatte ihn nämlich tatsächlich verraten. Obwohl die Justiz ihr gegenüber Milde walten ließ, besteht in dieser Hinsicht kein Zweifel. Dank seiner Ähnlichkeit mit Martin und allem, was dieser über sich erzählt hatte, hätte Arnaud du Thil vielleicht für ein paar Tage, höchstens ein paar Wochen, alle täuschen können. Nur mit Hilfe von Bertrande konnte er wirklich Erfolg haben. Irgendwie muss Bertrande aufgefallen sein, dass es sich nicht um ihren Mann handelte. Trotzdem hatte sie beschlossen, alles zu versuchen, um den Mann, den ihr das Schicksal geschickt hatte, zu behalten. Tag für Tag erzählte sie ihm alles, was sie über Martin Guerre wusste. Nur Baskisch konnte sie ihm nicht beibringen, weil sie diese Sprache nicht beherrschte.
Natürlich hatte sie Gewissensbisse und manchmal plagten sie schreckliche Zweifel. Schließlich handelte es sich um Ehebruch, selbst wenn ihr Mann vielleicht längst gestorben war, ohne dass sie es wusste. Einen solchen schwachen Moment hatte Pierre Guerre geschickt ausgenutzt.
Schließlich überwältigte sie jedoch die Liebe — sie liebte diesen Mann nämlich wirklich. Mit aller Kraft hatte sie für ihn gekämpft. Nach langen, schwierigen Jahren führte sie endlich das Leben, das sie sich immer erträumt hatte. Genauso erging es Arnaud du Thil. Er, der Nichtsnutz, der Spitzbube, hatte bei Bertrande eine Harmonie und eine Stabilität gefunden, die er nie für möglich gehalten hätte. Auf einmal war er nicht mehr derselbe, sondern wurde zu einem ehrlichen Mann, einem guten Gatten und einem liebevollen Vater. Arnaud und Bertrande waren füreinander geschaffen und sehnten sich nur nach einem stillen Glück. Um ein Haar hätten sie es auch geschafft, doch die Habgier eines alten Geizhalses hatte das verhindert.
Die Geschichte von Martin Guerre ist wirklich traurig.
Antwortscheine
Vereinigte Staaten, 1919. Giulio Romanolli, ein amerikanischer Staatsbürger, stammte ursprünglich aus Sizilien. Im Augenblick arbeitete er in einer großen Import-Export-Firma, die verschiedene Waren an Privatkunden in Europa versandte. Wenn diese Kunden im Katalog einen Artikel ausgewählt hatten, füllten sie ihre Bestellung aus und fügten ihr eine bestimmte Anzahl internationaler Antwortscheine bei. Diese Scheine enthielten sowohl Angaben über den Wert der Ware als auch über ihren Transport.
Giulio Romanolli stellte fest, dass der europäische Kunde, wenn er auf der Post diese »Antwortscheine« kaufte, einen viel geringeren Betrag zahlte, als der nominale Wert des Scheins in Dollar betrug. Er dachte, dass er, wenn er solche Scheine in großen Mengen in einem Land
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