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Die blutende Statue

Die blutende Statue

Titel: Die blutende Statue Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Bellemare
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verwundet und man sprach zuerst davon, es zu amputieren. Aber schließlich ist es auch so geheilt.«
    Dennoch sprach der Richter von Rieux schließlich ein Schuldurteil aus, und zwar aufgrund von zwei Zeugenaussagen. Man trieb den einzigen noch lebenden Angehörigen von Arnaud du Thil auf, einen Greis. Dieser kam zitternd auf ihn zu.
    »Mein Neffe!«
    »Wer sind Sie?«
    »Dein Onkel natürlich, Carbon Barreau, der alte Soldat. Erkennst du mich nicht? Ich hab dich auf den Knien geschaukelt.«
    »Und wer bin ich Ihrer Meinung nach?«
    »Natürlich Arnaud, Arnaud du Thil!«
    Der Richter wandte sich an den Angeklagten: »Was haben Sie dazu zu sagen?«
    »Der Alte ist verrückt oder man hat ihn dafür bezahlt, mich anzuschwärzen.«
    Die zweite Aussage, nämlich die des Schusters von Artigat, wog womöglich schwerer.
    Wie alle anderen hatte er Martin Guerre wiedererkannt und war gekommen, um das vor Gericht zu bezeugen. Doch inzwischen war ihm ein Detail eingefallen. Nach seiner Rückkehr hatte Bertrandes Gatte nämlich ein paar Schuhe bei ihm bestellt.
    »Nun, Herr Richter, Martin Guerre hatte Schuhgröße zwölf, doch braucht er jetzt nur noch Schuhe Größe neun.«
    Ein Körper kann sich ändern. Er kann abmagern, kleiner werden und zusammenschrumpfen. Aber einen Fuß, der kürzer wird, so etwas gibt es nicht. Der Richter von Rieux sprach also sein Urteil: »Es wird erklärt, dass Arnaud du Thil der Hochstapelei überführt wurde und demzufolge verurteilt wird, enthauptet zu werden. Anschließend wird seine Leiche gevierteilt und an allen vier Ecken der Stadt ausgestellt.«
    Doch damit war der Fall noch lange nicht zu Ende. Der Verurteilte legte beim Parlament von Toulouse Berufung ein, die auch für zulässig erklärt wurde. Man überführte ihn in ein finsteres Verlies im Gefängnis der Großstadt, aber Bertrande, die ihn die ganze Zeit über unterstützt hatte, ließ ihm ohne Mitwissen ihrer Familie heimlich Lebensmittel zukommen.
    Beim Prozess hörten sich die Richter fünfundzwanzig Zeugen an. Zehn sagten, es handele sich um Martin Guerre, acht meinten, es sei Arnaud du Thil, während sich die sieben anderen unschlüssig waren. Unterdessen war Arnauds Onkel gestorben und der Schuster von Artigat gab zu, er habe sich nach über acht Jahren in Bezug auf Martin Guerres frühere Schuhgröße vielleicht auch geirrt.
    Der große Moment kam mit Bertrandes Zeugenvernehmung. Aufgewühlt trat sie in den Zeugenstand. In dem Blick, den sie dem Angeklagten zuwarf, mischte sich Furcht mit Liebe. Martin rief ihr mit lauter Stimme zu: »Ich beschwöre dich feierlich, Bertrande, mein Weib, hier beim Heiland zu schwören, dass ich ein Hochstapler und Betrüger bin.«
    Ohne ein Wort zu sagen, fiel sie in Ohnmacht. Das war entscheidend. Auf die Richter machte das solchen Eindruck, dass der Angeklagte freigesprochen wurde. Nach der Verhandlung erwartete ihn Bertrande draußen mit neuen Kleidern. Sie warf sich ihm in die Arme. Beide strahlten. Sie hatte gewonnen! Sie hatten beide gewonnen!
    Sie kehrten nach Artigat zurück und nahmen ihr früheres Leben wieder auf. Im Dorf war man sich nicht mehr sicher, dass Bertrandes Gatte Martin Guerre war. Aber war das wirklich wichtig? Man mochte beide und sie waren ja so glücklich miteinander. Sie schadeten niemanden. Man sollte sie in Ruhe lassen.
    O doch, sie hatten jemandem geschadet und dieser jemand war mehr denn je entschlossen, sie nicht in Ruhe zu lassen. Pierre Guerre, der in der Berufung verloren hatte, musste die Prozesskosten tragen. Dass er die hohen Ausgaben für das Verfahren erstatten sollte, trieb seine Wut auf den Höhepunkt. Übrigens war das nun nicht mehr nur eine Geldfrage, sondern er handelte aus purem Hass. Er wollte den Kopf dieses Mannes, koste es, was es wolle.
    Ihm war klar, dass es dafür nur ein Mittel gab. Es wäre nutzlos, weitere Zeugenaussagen zu sammeln. Man hatte schon viel zu viele gehört und würde sie überhaupt nicht mehr in Betracht ziehen. Nein, seine einzige Hoffnung bestand darin, seinen Neffen, den echten Martin Guerre, zu finden. Er hatte zwar nicht die geringste Ahnung, wo der stecken könnte, machte sich aber auf die Suche. Entgegen jeder Vernunft und trotz seines hohen Alters ging er auf Wanderschaft.
    Und er schaffte es! Er spürte ihn irgendwo in Spanien auf — wo, wollte er nicht sagen — und kehrte mit ihm nach Artigat zurück. Die Ähnlichkeit war verblüffend, dasselbe wettergegerbte Gesicht, dieselben schwarzen Augen, dieselbe

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