Die blutende Statue
warten Sie auf jemanden?«
»Na ja, ich...«
»Ein Mädchen?«
Auf einmal begann der andere zu begreifen. Gleichzeitig zogen beide ein Foto aus der linken Innentasche, der über dem Herzen. Und beide stießen denselben Schrei aus: »Caroline!«
Als die achtundvierzig anderen gut gekleideten jungen Männer diesen Namen hörten, drehten sie sich zu ihnen um. Verdutzt musterten sie die beiden. Dann kamen sie näher und steckten alle praktisch synchron eine Hand in die linke Tasche, der über dem Herzen.
Einen Moment lang bildeten die fünfzig Männer einen stummen Kreis und betrachteten mit erbarmungswürdiger Miene fünfzig Fotos von Caroline Ligier in ihrem atemberaubenden Bikini, die jedem Einzelnen ihr unnachahmliches Lächeln schenkte.
In Le Havre hatte Kommissar Ferrand große Mühe, die vielen jungen Leute zur Ruhe zu bringen. Alle schrien, gestikulierten gleichzeitig und schwenkten dabei das Foto eines Mädchens, das übrigens gar nicht so übel aussah. Aus der ganzen Geschichte wurde er nicht schlau. Das einzig Beruhigende an der Sache war, dass alle gut gekleidet und offenbar keine zwielichtigen Typen waren. Vielleicht Hochzeitsgäste? Oder Mitglieder eines Klubs? Der Kommissar zeigte auf Jean-Louis Collard, der ihm am nächsten stand.
»Haltet alle den Mund! Sie da! Reden Sie!« Wutschnaubend zeigte Jean-Louis sein Foto.
»Die da hat uns allen die Ehe versprochen und uns Geld abgeluchst.«
Kommissar Ferrand lächelte glücklich wie jemand, der endlich begriffen hat.
»Gut. Wie viel?«
»Fünfhundert Franc.«
»Mir auch.«
»Mir auch.«
Der Kommissar wartete, bis alle »Mir auch« verstummt waren, und fuhr dann fort: »Name der Person?«
Die Antwort wurde ihm einstimmig aus fünfzig Kehlen entgegengeschmettert: »Caroline Ligier.«
»Adresse?«
Dieselbe einstimmige Antwort, wie ein einstudierter Opernchor: »Avenue de la République 23, Fort-de-France. «
»Beruf?«
»Mannequin.«
»Das heißt, sie wollte Mannequin werden«, präzisierte Jean-Louis Collard, der Sinn für Nuancen hatte.
Das war also erledigt. Kommissar Ferrand dankte den Herren, wobei er sich nur mit Mühe ein ironisches Grinsen verkneifen konnte. Endlich waren sie gegangen und er befand sich wieder allein im Büro. Der Fall hatte zwar ungewöhnlich begonnen, aber der Rest sah nach reiner Routine aus. Mit einem Namen, einer Adresse und einem Foto dürfte es nicht schwer sein, diese Schwindlerin zu fassen, dachte der Kommissar. Dazu musste er die Informationen nur den Kollegen in Fort-de-France übermitteln.
Dominique Saint-Esprit war Inspektor im Hauptkommissariat von Fort-de-France. Er fühlte nichts Besonderes, als er in die Avenue de la République ging, um eine gewisse Caroline Ligier zu verhaften.
Avenue de la République 23 war ein großer Wohnblock, von denen es damals noch nicht viele gab. Der Briefträger warf die Post dort in eine Batterie Briefkästen in der Eingangshalle. Auf einem stand tatsächlich der Name von Caroline Ligier oder vielmehr las man dort zwei Namen: Benjamin Lefrançois/Caroline Ligier. Das machte die Sache etwas komplizierter. Nachdem der Inspektor vergeblich an der Wohnungstür geklingelt hatte, ging er zum Hausverwalter. Der konnte ihm auch nicht viel erzählen.
»Der Mann hat brieflich gekündigt. Er schrieb, dass er nach Paris umziehen wollte. Nein, an die beiden erinnere ich mich wirklich nicht. In dem Gebäude wohnen so viele und es ziehen dauernd welche ein und aus. Bestimmt hab ich den Mann ein-, zweimal gesehen, das ist alles.«
Die mit dem Hauptschlüssel des Hausmeisters vorgenommene Durchsuchung ergab nichts Interessantes. Offensichtlich war die Wohnung, in der die Briefe der fünfzig Verehrer gelandet waren, verlassen. Abgesehen von ein paar Campingmöbeln war alles leer, es gab weder persönliche Gegenstände noch Kleidungsstücke. Inspektor Saint-Esprit berichtete seinem Chef, was die Nachforschungen ergeben hatten. Da die beiden Komplizen nach Paris verzogen waren, beschloss dieser, den ganzen Fall an die Kollegen in der Hauptstadt zurückzuschicken.
So begann der Pariser Inspektor Joël Rolland am 2. Januar 1963 das neue Jahr mit dem Fall Caroline Ligier-Benjamin Lefrançois. Joël Rolland, der als einzigen Hinweis das Foto der jungen Frau besaß — der Name war ja sicher falsch — , machte sich unverzüglich an die Arbeit. Ihm kam eine Idee, eine simple Idee, doch die sind oft die besten. In den Briefen an ihre Verehrer hatte Caroline oft behauptet, Mannequin
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