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Die blutende Statue

Die blutende Statue

Titel: Die blutende Statue Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Bellemare
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vor.
    »Stell dir vor, Marguerite, wie vornehm der sich ausdrückt! Und dann diese Schlussformel: Ich küsse Ihnen tausendmal die Hände.«
    Die Gesellschaftsdame lächelte.
    »Dann antworte ihm doch. Auf dem Briefbogen steht die Adresse.«
    Edith errötete.
    »Aber das wäre unschicklich!«
    Doch ihre Freundin ließ nicht locker.
    »Für eine Frau in deinem Alter und deiner Stellung ist das nicht kompromittierend. Schreib ihm nur, dass er hier immer willkommen ist.«
    Die Frau Hofrat ließ sich bereitwillig überzeugen. Am nächsten Tag brachte Marguerite, die sich um all diese materiellen Dinge kümmerte, ihren Brief zur Post. Dann warteten sie gemeinsam auf die Antwort.
    Drei Wochen, ein Monat verstrichen ohne das winzigste Briefchen. Edith Nagel wurde ungeduldig, schämte sich jedoch, es ihrer Freundin zu zeigen. Jeden Morgen, wenn die Post kam, rannte sie zur Tür und kehrte dann wortlos wieder zurück. Sie wurde übellaunig und gereizt.
    Endlich traf der heiß ersehnte Brief ein. Seltsamerweise war er nicht in Wien aufgegeben worden, sondern in Badgastein, einem großen Skiort bei Salzburg. Tatsächlich war es Klaus Vogler, der geschrieben hatte, nur waren es leider schlechte Nachrichten. Der Ärmste lag mit einer schweren Lungenentzündung im Krankenhaus und wusste nicht, wie lange seine Behandlung noch dauern würde. Da er sich einsam fühlte, nutzte er die erzwungene Untätigkeit aus, um der Frau zu schreiben, an die er immer mit Freude zurückdachte. Im Brief erzählte er von den letzten Büchern, die er gelesen hatte, nur leider konnte er sich wegen der Krankenhauskosten nicht so viele leisten, wie er gern gewollt hätte. Zum Schluss erwähnte er noch die köstlichen Hörnchen und küsste der Frau Hofrat »tausendmal die Hände«.
    Lange las Edith Nagel den Brief immer wieder durch. Sie war tief bewegt. Wie Unrecht hatte sie dem jungen Mann getan, als sie dachte, er antworte ihr nur aus Gleichgültigkeit nicht. Sie fühlte sich schuldig. Da musste sie unbedingt etwas unternehmen.
    Wieder war es Marguerite, die ihr aus der Verlegenheit half.
    »Wenn du möchtest, kann ich für dich ein paar Wertsachen veräußern und das Geld Klaus schicken. Auf die Weise ist er bald wieder bei uns.«
    Sofort ging Edith auf den Vorschlag ein. Sie bat Marguerite, alles Nötige zu verkaufen und das Geld ins Krankenhaus von Badgastein zu schicken. Nur bestand sie darauf, noch ein Paket mit Hörnchen beizufügen. Die würden ihm sicher Freude bereiten.
    Marguerite kümmerte sich um alles und konnte ihrer Freundin zwei Tage später mitteilen, dass alles zu ihrer Zufriedenheit erledigt worden war.
    Der nächste Brief kam aus Italien, wo der junge Mann einen Genesungsurlaub verbrachte. Er bedankte sich wärmstens für das Geld und die köstlichen Hörnchen. Leider steckte er nun in anderen Schwierigkeiten, weil man ihm während der Reise die Koffer gestohlen hatte.
    Wieder griff die Frau Hofrat ein und Marguerite übernahm es, das nötige Geld an die angegebene Adresse zu schicken.
    In den nächsten Monaten und sogar Jahren trafen regelmäßig weitere Briefe ein.
    Seltsamerweise bestand das Leben des jungen Mannes aus einer nie abreißenden Pechsträhne. Offenbar hatte sich das Schicksal gegen ihn verschworen. Edith Nagel schickte als Antwort jedes Mal Geld, begleitet von einem zärtlichen Brief, in dem sie ihm baldige Besserung wünschte, damit er sie rasch wieder besuchen kommen könnte. Ihre Schmuckschatulle leerte sich, aber das war Edith egal. Wozu hätte sie das ganze Geld sonst gebraucht? Auf die Art gab sie es wenigstens für einen guten Zweck aus, für jemanden, der es verdiente. Außerdem füllte es ihr Leben aus. Ihr war nicht mehr allein zu Mute, sie fühlte sich sogar nützlich.
    Die Freundinnen der Frau Hofrat zerrissen sich das Maul über sie und machten sie zu ihrem Lieblingsthema.
    »Man stelle sich vor, in ihrem Alter! Im Grunde ist die Ärmste eigentlich zu beklagen.«
    Manche versuchten sogar, sie vor dem jungen Abenteurer zu warnen, der ihr offensichtlich nach und nach das ganze Vermögen abknöpfte.
    Aber auf alle Warnungen und alle mehr oder weniger gut gemeinten Ratschläge hin antwortete Edith unerschütterlich: »Das stimmt nicht! Ich vertraue ihm.« Am 15. Juni 1953 korrespondierte die Frau Hofrat Edith Nagel nun schon seit sieben Jahren mit ihrem Schützling Klaus Vogler, den sie alles in allem nur zweimal gesehen hatte: bei ihrer ersten Begegnung im Café de l’Univers und eine Woche später zu Hause

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