Die blutende Statue
um die fünfundvierzig mit dem vom Rathaus ausgestellten Zuteilungsschein vor der Tür. Eine Kriegswitwe, Marguerite Hafner. Die beiden freundeten sich sofort miteinander an. Marguerite — die beiden redeten sich bald beim Vornamen an — war das genaue Gegenteil von Edith, eine zupackende, willensstarke Frau, die ausgesprochen praktisch veranlagt war. Nachdem die neue Untermieterin Edith verschiedene kleine Dienste geleistet hatte, schlug sie schließlich vor, auch ihr Haushaltsgeld zu verwalten. Zu Ediths größter Zufriedenheit kümmerte sich Marguerite nun um ihre ganze Habe. Auf fast wundersame Weise hatte Edith zugleich eine Gesellschaftsdame und eine umsichtige Geschäftsfrau gefunden.
Frau Hofrat Edith Nagel schenkte Marguerite Hafner, die ihr im überfüllten Café de l’Univers gegenübersaß, ein flüchtiges Lächeln. Ihre Gefährtin war einfach gekleidet mit einem dunklen, nicht mehr ganz neuen Kostüm und einem ein wenig lächerlichen Hütchen mit Federbusch. Die beiden schlugen die Zeit tot. Dabei gingen sie nur einmal in der Woche aus. So kurz nach dem Krieg gab es in Wien sonst kaum Gelegenheit, Zerstreuung zu finden.
»Verzeihen Sie, Gnädigste.«
Edith Nagel hob den Kopf. Der etwa dreißigjährige Mann, der sie angesprochen hatte, verbeugte sich leicht. Elegant hielt er Handschuhe und Hut in der Hand. Ein schmaler blonder Schnurrbart zierte das vornehme Gesicht mit dem sorgfältig frisierten Haar. Edith blickte ihn fragend an. Höflich fuhr der junge Mann fort: »Sonst ist kein Tisch mehr frei. Erlauben Sie, dass ich an Ihrem Platz nehme?«
Lächelnd forderte die Frau Hofrat den jungen Mann auf, sich zu setzen. Er stellte sich vor: Klaus Vogler. Bei einer Tasse Tee kam man ins Gespräch. Sofort schnitt Edith ihr Lieblingsthema an, die Literatur. Eine ganze Weile unterhielt sie sich lebhaft mit ihrem Tischgast, der auch alle aktuellen Romane gelesen hatte. Edith Nagel war entzückt, fast bezaubert. Was für ein charmanter, intelligenter und kultivierter junger Mann! »Gewiss sind Sie Professor für Literatur?«
Der junge Mann lächelte bedauernd.
»Die Literatur ist meine Leidenschaft, aber leider nicht mein Beruf. Ich arbeite im Handel.«
Nach einer Stunde verabschiedete man sich. Klaus Vogler gab sowohl Edith als auch Marguerite, die sich nicht an dem Gespräch beteiligt hatte, einen vollendeten Handkuss. Aus der Ferne hatten mehrere Damen, die mit der Frau Hofrat befreundet waren, die ganze Szene beobachtet. Sie wechselten halb belustigte, halb vorwurfsvolle Blicke. Dabei ahnten sie nicht einmal, dass Edith Nagel kurz vor der Verabschiedung Klaus Vogler für die folgende Woche zu einem Gedankenaustausch über Literatur eingeladen hatte.
Während sie ihren Tee austrank, lächelte Edith ihre Tischpartnerin zugleich unbefangen und entzückt an. »Mit so einer netten Begegnung habe ich gar nicht gerechnet.«
Eine Woche später klingelte es in der luxuriösen Wohnung der Frau Hofrat an der Tür. Edith Nagel stürzte hin, um ihren Gast zu begrüßen. Er war sogar noch eleganter als beim ersten Mal. In der Hand hielt er einen großen Rosenstrauß. Edith zog ein beschämtes Gesicht.
»Das war doch nicht nötig, Herr Vogler! Kommen Sie, es gibt Kaffee und Kuchen. Alles selbst gebacken.« Die beiden Damen und der junge Mann nahmen an einem Tisch mit Spitzendecke Platz. Es gab Kaffee, echten Bohnenkaffee, und vor allem einen Korb mit Hörnchen, die Edith nach ihrem Rezept aus der Vorkriegszeit gebacken hatte, mit Schokoladenguss und Marzipanfüllung. Dabei erwähnte sie allerdings nicht, dass sie dafür ein kleines Vermögen auf dem Schwarzmarkt ausgegeben hatte, genauer gesagt einen auf ein Goldblatt montierten Diamanten. Aber sie bereute nichts. An diesem Schmuckstück hing sie am wenigsten und sie besaß ja noch so viele andere.
Die Unterhaltung verlief ein wenig zäher als beim ersten Mal. Eigentlich war es vor allem Edith Nagel, die sprach. Marguerite, die sich nie besonders für Literatur interessiert hatte, ließ sich vor allem keinen Krümel von dem Festmahl entgehen und konzentrierte sich ganz auf die Hörnchen. Klaus Vogler sprach mit einer gewissen Zurückhaltung. Dieser opulente Empfang schien ihn zu beeindrucken und war ihm vielleicht sogar etwas peinlich.
Sobald er gegangen war, sang Edith Lobeshymnen auf den wundervollen jungen Mann. Als sie am nächsten Tag ein Dankschreiben von ihm erhielt, war sie sogar noch überschwänglicher. Wieder und wieder las sie es ihrer Untermieterin
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