Die blutende Statue
Haar in einem zerzausten Bürstenschnitt. Er wirkte irgendwie linkisch in seinem marineblauen, gut geschnittenen Anzug. Alles in allem sah er aus wie ein herausgeputzter Bauer. Als einziges Gepäckstück hielt er ein schwarzes Köfferchen in der Hand.
Er reichte dem Angestellten ein Rückflugticket erster Klasse nach New York, ausgestellt auf den Namen Pierre Bernard. Der Schalterbeamte gab ihm eine Bordkarte und wollte schon den Koffer nehmen, um ihn aufs Laufband zu stellen. Doch Pierre Bernard wehrte mit einer Geste ab. Er sprach mit einem starken Akzent aus dem Berry.
»O nein, Jungchen! Den Koffer will ich selbst in den Bus laden. Außerdem will ich das, was da drin ist, erst mal versichern. Ich hab gehört, man kann das.« Verdutzt antwortete der Flughafenangestellte: »Ja, das stimmt. Für welche Summe?«
»Dreißig Millionen Franc. Natürlich meine ich alte.« Dem Angestellten fiel die Kinnlade herunter. Ein Hinterwäldler aus dem Berry, der erster Klasse nach New York flog, war ja schon nicht alltäglich, aber einer mit dreißig Millionen im Koffer, das kam bestimmt zum ersten Mal in der Geschichte des Flughafens vor.
»Was ist denn da drin? Gold?«
»Viel besser, Jungchen. Bilder! Und zwar gute! Hab ich mir jedenfalls sagen lassen, ich selbst versteh nämlich nicht viel davon. Da drin stecken zwei von Manet, zwei von Renoir und eines von Dufy.«
Der Angestellte musste schwer schlucken.
»Aber so etwas dürfen Sie nicht einfach aus Frankreich ausführen! Dazu brauchen Sie Zertifikate und Genehmigungen.«
Pierre Bernard steckte eine Hand in die Tasche und zog ein dickes Bündel heraus, das aus einer alten, abgewetzten Brieftasche, einer Taschenuhr, losen Geldscheinen, ein paar Bindfäden und allen möglichen Papieren bestand. Er sortierte das alles rasch und zeigte dann zwei Dokumente vor.
»Hier, Jungchen. Die vom Zollamt unterzeichnete Ausfuhrgenehmigung und noch eine, die vom Experten der staatlichen Museen unterschrieben ist. Damit ist ja wohl alles in Ordnung?«
Das gab dem armen Angestellten den Rest. Völlig überfordert rannte er zu seinen Vorgesetzten. Die konnten nur feststellen, dass die offiziellen Papiere völlig in Ordnung waren, und schlossen darum für Pierre Bernard, wohnhaft in Saint-Pé im Departement Indre, eine Versicherung über dreißig Millionen alte Franc ab, die für zwei Manets, zwei Renoirs und einen Dufy galt. Anschließend begleiteten der Direktor des Busbahnhofs, zwei Angestellte und ein Polizist Pierre Bernard zum Bus. Das Provinzei aus dem Berry verstaute den Koffer eigenhändig im Kofferraum und wartete in Gesellschaft seiner kleinen Eskorte, bis alle anderen Koffer eingeladen waren und die Tür verriegelt war. Dann stieg er in den Bus, der sofort abfuhr.
Natürlich setzte der Zubringerdienst den Flughafen Orly vom Eintreffen der wertvollen Ladung in Kenntnis. Zur angegebenen Zeit kamen ein Vertreter der Flughafengesellschaft, ein Zöllner und ein Polizist auf den Busparkplatz heraus. Das Fahrzeug vom »Aérogare des Invalides« stand schon dort. Der Gepäckträger wollte gerade den Kofferraum öffnen, als ihn der Flughafenvertreter zurückhielt: »Wir warten, bis der Besitzer dabei ist.«
Dieser stieg gerade aus dem Bus und verzog dabei das Gesicht, anscheinend weil ihm die Lackschuhe wehtaten. Er rief: »Kannst aufmachen, Jungchen.«
Der Gepäckträger öffnete und hievte die Koffer einzeln auf den Karren. Es gab sie in allen Größen und Farben: weiße, braune, karierte und einen kleinen schwarzen... Nein, der war es nicht. Der Angestellte hatte nun fast alle ausgeladen, während den Anwesenden immer unbehaglicher zu Mute wurde.
Schließlich kroch der Gepäckträger mit einem Rucksack, den eine britische Flagge zierte, aus den Tiefen des Busses heraus und verkündete lakonisch: »Das war das letzte Gepäckstück.«
Der Flughafenvertreter war leichenblass.
»Suchen Sie noch einmal. Sie haben schlecht nachgeschaut. Das ist doch unmöglich!«
Der Angestellte tat, wie ihm geheißen, begleitet von Pierre Bernard, der persönlich den Gepäckraum untersuchte und dabei immer wieder vor sich hin murmelte: »Das is’n Ding!«
Eine Minute später kamen die beiden unverrichteter Dinge wieder zum Vorschein. Plötzlich brüllte der Mann aus dem Berry los: »Man hat mich bestohlen! Haltet den Dieb!«
Das ganze Gepäck wurde noch einmal durchgesehen. Aber jeder Zweifel war ausgeschlossen. Das schwarze Köfferchen mit den Meisterwerken war verschwunden.
Eine Weile
Weitere Kostenlose Bücher