Die Blutgabe - Roman
vieles zugetraut. Aber so eine Dummheit – das nicht. Hat Chase dich so sehr aus der Fassung gebracht?
Minutenlang, so schien es ihm, saß er da und lachte still insich hinein, bis er wirklich das Gefühl hatte, wahnsinnig zu werden. Das konnte einfach nicht gutgehen. Aber vermutlich war es zu spät, um sie aufzuhalten. Alles, was ihm blieb, war, Katherine viel Glück zu wünschen. Denn das würde sie wirklich brauchen.
Schwerfällig richtete er sich auf Hände und Knie auf. Seine Verletzungen waren inzwischen geheilt, aber sie schmerzten noch, und er fühlte sich unendlich schwach. Die Blutergüsse würden vermutlich noch tagelang auf seiner Haut zu sehen sein. Langsam kroch er zu Blue hinüber. Um sie musste er sich jetzt sorgen. Nicht um Katherine oder sich selbst.
Als er eine Hand auf ihre Schulter legte, riss sie die Arme vor das Gesicht und rollte sich wimmernd zusammen, als wolle sie sich gegen ihn schützen.
Kris zog augenblicklich die Hand zurück. »Blue«, murmelte er sanft. »Ich bin es doch nur.«
Langsam ließ Blue die Arme sinken. Kris erschrak. Sie sah furchtbar aus. Blutverklebte Locken hingen bis weit in ihre Stirn – doch sie bedeckten nur unzureichend das Loch inmitten von vier tiefen Furchen, die die Krallen des Wächters hinterlassen hatten. Dort, wo das rechte Auge hätte sein sollen. Das linke war unnatürlich geweitet und durchzogen von geplatzten Äderchen. Es zuckte hin und her. Wild. Panisch. Ein riesiger Bluterguss entstellte die linke Gesichtshälfte. Die aufgeplatzten Lippen bewegten sich stumm.
»Wer …?«, flüsterte sie mit zittriger Stimme. »Wo …? Ich …« Ein Schmerzensschrei brach über ihre Lippen. Sie krümmte sich und begann, wie wild auf ihr Bein einzuschlagen, umklammerte es, zerrte daran, als wolle sie es ausreißen.
Das Mitleid stach in Kris’ Brust. Was hatte Sid ihr nur angetan?
Er ließ sich neben der jungen Vampirin zu Boden sinken und streckte vorsichtig die Hand nach ihr aus.
»Ganz ruhig«, flüsterte er. »Es ist vorbei. Dir passiert jetzt nichts mehr. Es tut bald nicht mehr weh.«
Blue erschauerte, als seine Finger ihre Haare berührten. Ihr eines Auge fixierte ihn nun starr, aber Kris sah, wie die Angst langsam daraus wich.
Er zog sie behutsam in seine Arme, wo sie sich schließlich bebend an ihn schmiegte.
»… kenne dich«, murmelte sie schwach.
»Natürlich kennst du mich.« Kris strich ihr liebevoll über den Rücken. »Aber mach dir darum jetzt keine Gedanken. Du hast einen langen Weg hinter dir. Du bist müde. Du solltest schlafen, damit du bald wieder ganz gesund wirst.«
Blue sah zu ihm hinauf. »Ich … ich kann nicht …«
»Doch, du kannst.« Er legte seine Hand über ihr Gesicht. »Ich passe so lange auf dich auf. Schlaf!«
Ein trockenes Schluchzen rüttelte an Blues Schultern. »Mach, dass es weggeht«, flüsterte sie heiser. »Mach, dass es aufhört …«
»Das werde ich«, versprach Kris und spürte, wie trotz allem ihr Atem allmählich ruhiger wurde. »Es ist bald vorbei, das verspreche ich dir.«
Ein letztes Mal holte Blue zitternd Luft. »Frei«, murmelte sie matt. »Frei …«
Dann spürte Kris, wie ihr Geist endlich in die Dunkelheit davontrieb und ihr Körper sich entspannte.
Ein erleichterter Seufzer stieg seine Kehle hinauf. Reglos blieb er sitzen und fühlte das Herz in ihrer mageren Brust gleichmäßig gegen seine Rippen klopfen. Vorsichtig ließ er seine Fingerspitzen durch ihre Locken gleiten.
Als er jedoch am Hinterkopf anlangte, stutzte er. Die Haare schienen dort dünner zu sein. Stellenweise spürte er sogar kahle Haut. Er runzelte die Stirn und griff nach ihrer Hand. Blonde Haare hingen an ihren Fingernägeln. Hatte sie sich etwa selbst angegriffen? In der bloßen Haut ihres Unterarms entdeckte er mehrere Bisswunden. Das war sicher nicht Sid gewesen. War Blues Zustand dann vielleicht gar nicht der alleinige Verdienst des Wächters? Janets Worte kamen Kris plötzlich wieder in den Sinn.
Irgendwas ist mit ihr nicht normal.
Nicht normal. Kris fröstelte. Wenn er genauer darüber nachdachte, war das natürlich gut möglich. Blue war über Monate hinweg ein Versuchsobjekt gewesen. Sie hatte Dutzende hochtoxische Substanzen gespritzt bekommen, man hatte ihr DNA implantiert und sie mit Drogen vollgepumpt. Und auch wenn all das im Experiment nicht die erhofften Ergebnisse erzielt hatte, so hatten die Substanzen vielleicht an anderer Stelle eine Wirkung entfaltet. Eine Wirkung, an die niemand gedacht und die
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