Die Blutgabe - Roman
streunenden Hunden und Katzen, die im Müll raschelten. Niemanden, der ihr zur Hilfe kommen würde, wenn es nötig war.
Katherine schob die Hände tief in die Taschen ihrer Jacke. Sie brauchte keine Hilfe, dachte sie. Sie war doch bereits eine Bluterin. Was sollte ihr schon passieren?
Willst du ausprobieren, ob du vielleicht noch einmal wahnsinnig wirst?
Cedrics Worte klangen in ihrem Kopf nach, und die von Neuem aufkeimende Wut vertrieb die Angst. Und wenn sie wahnsinnig wurde? Was konnte so schlimm daran sein? Sie hatte es einmal überstanden. Sie hatte nicht einmal eine Erinnerung daran. Zumindest … hatte sie keine gehabt. Bis gestern.
Katherine schüttelte entschlossen den Kopf. Sie weigerte sich, diesen Gedanken weiter nachzuhängen. Mit einer Hand packte sie das Vorhängeschloss, das den Riegel des Tors sicherte, und riss daran, bis der Bügel aufsprang. Es bestand kein Grund, Angst zu haben. Wenn ein junger Bluter versuchen sollte, sie anzugreifen – dann würde sie ihm schon zeigen, was es hieß, sich mit einer Älteren anzulegen.
Quietschend öffnete sich das Tor. Katherine zögerte nicht länger. Mit festen Schritten überquerte sie die Schwelle und tauchte ein in die rötliche Finsternis des verbotenen Viertels. Noch einmal sah sie auf ihr Navigationsgerät. Sehr gut. Vorerst konnte sie einfach dieser Straße folgen. Zügig schritt sie voran. All ihre Sinne waren hellwach wie nie zuvor. Sie ließ den Blick die hohen Fassaden hinaufgleiten, in deren bröckeligem Putz die Aaskäfer krochen, und lauschte auf dasTrippeln von Rattenpfoten, das sich mit dem Flüstern des Windes in den engen Seitengassen mischte. Es roch nach altem Blut und noch älteren Exkrementen, nach verwesenden Tierkadavern und – ganz leicht, so schwach, dass es kaum wahrnehmbar war – nach Menschenblut.
Katherine blieb stehen. Menschen? Hier?
Sie schloss die Augen und atmete tief ein. Der Geruch kam mit dem Wind. Aber das war nicht ihre Richtung. Sollte sie trotzdem nachsehen?
Sie schüttelte den Kopf. Nein. Sie hatte keine Zeit zu verlieren. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis auch dieser stille Teil der Stadt aus seinem Dämmerschlaf erwachen würde. Katherine spürte die Präsenz etlicher Vampire auf ihrer Haut prickeln. Sie mussten ganz in der Nähe sein. Sie regten sich. Sie waren hungrig. Bald würden sie zur Jagd aufbrechen …
Jagd. Wie von selbst spannten sich Katherines Muskeln, als ihr das Wort in den Sinn kam. Speichel sammelte sich in ihrem Mund, und unwillkürlich sog sie die Luft tiefer in ihre Lungen, schmeckte den Geruch der Vampire und den weit entfernten der Menschen. Wie lange hatte sie sich nicht mehr diesem Rausch hingegeben? Alles loszulassen, nur noch den Instinkten zu vertrauen. Die Fährte eines Opfers aufzunehmen. Ihm nachzuspüren, es zu scheuchen und zu hetzen, bis die Gier nach Blut nicht mehr länger zu ertragen war. Bis endlich die Zähne in das weiche, süße Fleisch eindrangen und der Lebenssaft hervorquoll …
Erschreckt biss Katherine sich auf die Lippe und zuckte zusammen, als die dünne Haut aufsprang und ihr eigenes Blut in ihren Mund sickerte. Was dachte sie denn da? Jagen in freier Wildbahn war verboten! Und die Jagd auf Vampire … wenn sie
progressives Blut
tränke …!
Katherine beschleunigte ihren Schritt. Sie musste so schnell wie möglich wieder von hier verschwinden.
Je weiter sie in die dunklen Gassen vordrang, desto diffuser wurde das Licht. Aber Katherines scharfen Augen machte das wenig aus. Im Gegenteil schien sie umso besser zu sehen, je schlechter die Sichtverhältnisse wurden. Instinktiv hielt sie sich so dicht an den Häuserwänden wie möglich und bewegte sich fast geräuschlos vorwärts.
An einer Kreuzung blieb sie stehen und warf einen weiteren Blick auf ihr Navigationsgerät. Um dem Straßenverlauf folgen zu können, hätte sie nun scharf nach links abbiegen müssen. Aber vielleicht sollte sie es riskieren, den weniger geschützten Weg über die Dächer zu nehmen, um schneller an ihr Ziel zu kommen? Katherine schnupperte, um den Geruch der Umgebung aufzunehmen – und stutzte. Der Wind hatte sich gedreht, kam nun von vorn statt von der Seite. Doch noch immer trug er den Geruch von Menschenblut mit sich, sogar deutlicher noch als zuvor. Und auch die Witterung der anderen Vampire war jetzt stärker, mischte sich mit dem feinen Duft der Erregung. Katherines Nacken prickelte. Ohne sich dessen ganz bewusst zu sein, hatten sich ihre Füße wieder in Bewegung
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