Die Blutgabe - Roman
weit.
Schon nach wenigen Metern machte der Pfad einen scharfen Knick. Und hinter dem Gebüsch, das den Wegrand säumte, sah Red die Mauer aus moosbewachsenen Steinen, die den Garten begrenzte.
Als hätte jemand Gewichte an seine Füße gebunden, wurden seine Schritte langsamer, bis er schließlich stehen blieb.
Beinahe hätte er gelacht.
Mauern.
Hier gab es sie also auch.
Dabei waren sie es, vor denen er geflohen war. Die Erinnerung schnürte Red die Kehle zusammen. Blue und er – wie oft hatten sie vor den Mauern der Farm gestanden? Mauern, die hinter all den Annehmlichkeiten, den Sportanlagen, denParks und stillen Wäldern so weit entfernt schienen, dass kaum ein Mensch sich wirklich bewusst war, dass es sie gab? Und doch waren sie da, hielten die Bewohner der Farm gefangen und schürten Blues Zweifel. Blue hatte ihr Leben lang gezweifelt. An allem. Seit Red sie kannte. So sehr, dass sie schließlich dem Druck nachgab und in die Freiheit floh, von der sie immer geträumt hatte. Red glaubte nicht, dass jener Vampir, dem sie gefolgt war, noch viele Worte gebraucht hatte, um sie zu überzeugen.
Er legte eine Hand an die sonnenwarmen Steine. Tränen brannten hinter seinen Augenlidern. Er war sich nie ganz sicher gewesen, ob Blue recht hatte, als sie sagte, die Vampire auf der Farm seien schlecht und wollten die Menschen nur ausnutzen. Er war ihr gefolgt, weil er sie nicht hatte allein lassen wollen. Und nun war er hier.
Allein.
An einem Ort hinter Mauern, den er nicht verlassen konnte. Zumindest nicht, wenn er eine Chance haben wollte zu überleben. Red machte sich nichts vor. Wäre Hannah nicht gewesen, wäre seine Flucht vermutlich nicht so erfolgreich verlaufen.
So also sah Blues Freiheit in Wirklichkeit aus.
Red lehnte den Kopf an die Mauer. Seine Knie waren weich, als wäre sein eigenes Gewicht zu schwer, um es zu tragen.
Es ergab alles keinen Sinn.
Eine Träne tropfte auf seinen Schuh.
Er konnte doch nicht einmal sich selbst helfen. Wie konnte er da hoffen, Blue zu retten?
Red ballte die Fäuste, bis es schmerzte.
Nein, dachte er, er würde nicht aufgeben. Es konnte nicht alles umsonst gewesen sein!
Er musste sie retten.
Er würde stark werden.
Irgendwie.
Als er zum Übungsgelände zurückkehrte, waren Chase und Sarah bereits dort. Und sie waren nicht allein. Red zählte vier weitere Menschen: Claire und drei Männer, die sich mit gedämpften Stimmen unterhielten. Doch als Red sich der kleinen Gruppe näherte, verstummten die Gespräche.
Sechs Augenpaare musterten ihn.
Neugierig.
Abschätzend.
Misstrauisch.
Nur Sarahs Blick war freundlich.
»Da bist du ja.« Claire zog eine Uhr aus der Tasche und warf einen Blick darauf. Von ihrem Lächeln am Morgen war nichts mehr zu sehen. »Knappes Timing.«
Und wie um ihre Worte zu bestätigen, öffnete sich, noch während sie sprach, die Tür der Hütte.
Heraus kam ein wahrer Hüne von einem Mann, sicherlich doppelt so breit wie Red und gute eineinhalb Köpfe größer. Seine Haut war dunkel und glänzte matt im Sonnenlicht. Er kam mit großen Schritten auf sie zu und baute sich direkt vor Red auf. Schwarze Augen sahen auf ihn herunter, ohne ein einziges Mal zu blinzeln, und Red fühlte sich schrumpfen unter dem starren Blick. Niemand sagte ein Wort. Doch auch so wusste Red, dass dies Tony sein musste – und dass er ganz bestimmt kein Mensch war.
»Du bist Red September«, stellte der Mann mit einer Stimme fest, die wie fernes Donnern klang.
Red nickte und zwang sich, den stechenden Augen zu begegnen,ohne zur Seite zu sehen, obwohl er sich in Wahrheit am liebsten in irgendeinem Loch verkrochen hätte. Sekundenlang starrten sie sich an – bis Tony schließlich mit einem Schnaufen die Nasenflügel blähte und die Daumen in die Gürtelschlaufen hakte. Sein kantiger Kiefer schob sich grimmig nach vorn. »Na gut«, knurrte er und entblößte schimmernde Fangzähne. »Woll’n mal seh’n, wie du dich machst. Scheinst ja ein ganz kräftiger Bursche zu sein.«
Red nickte beklommen. Er war sich nicht sicher, was von ihm erwartet wurde. Aber er würde sein Bestes geben.
Tony klatschte in die Hände. »Also los, ihr müden Witzfiguren! Zwei Runden um den Platz und dann auf den Parcours, aber ein bisschen zügig! Claire mit Bruce, Michael mit Will, Red mit Sarah! Chase, du gehst heute solo! Kommt in die Gänge, oder ich mach euch Beine!«
»Aye, Sir!«
Gehorsam setzten sich die Menschen paarweise in Trab. Chase, der vorn lief, setzte sich schon
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