Die Blutgabe - Roman
Zwölf
Insomniac Mansion, Kenneth, Missouri
»Ich dachte erst, er wäre ein Mensch. Er saß dort, ganz in sich zusammengekauert, und er beobachtete mich …«
Im Garten unter den riesigen Bäumen war es kaum angenehmer als im Inneren des Hauses.
Red saß am Fuß der Mauer, im hintersten Winkel des Geländes, und wünschte sich, es würde endlich regnen. Aber die schwarzgelben Wolken über ihm grollten ihm nur weiter ihren Unmut entgegen und weigerten sich, ihre Last fallen zu lassen. Weit entfernt war am Horizont Wetterleuchten zu sehen.
Den ganzen Tag über war Red weder Menschen noch Vampiren begegnet, obwohl er seit dem Frühstück ziellos durch das Haus und durch den Garten gewandert war. Es war Freitag – und das bedeutete, heute Abend würde die Exekutive der
Bloodstalkers
zu ihren Außeneinsätzen aufbrechen.
Natürlich ohne Red.
Für ihn gab es nichts zu tun. Und es machte ihn wahnsinnig.
Red?
Red fuhr zusammen. Wer hatte das gesagt? Die Stimme war so leise gewesen, dass er sich im nächsten Augenblick schon nicht mehr sicher war, sie wirklich gehört zu haben.
Ich bin es nur.
Da war es wieder! Red sprang auf.
Keine Angst.
»K … Kris?« Unwillkürlich presste Red die Hand an dieSchläfe und sah sich hastig nach allen Seiten um. »Wo bist du?«
In meinem Zimmer. Ich warte auf dich.
Red schluckte trocken. »Ich … ich bin …«
Keine Hektik.
Die Stimme rann durch seinen Körper wie warmes Wasser. Und jetzt erkannte Red sie auch eindeutig wieder.
Lass dir Zeit. Ich warte.
Vergeblich versuchte Red, seinen Atem zu beruhigen.
»Ich bin unterwegs«, sagte er und spürte, wie sein Herz nervös zu pochen begann. »Ich komme.«
Und noch bevor er recht begriff, was er tat, machten seine Füße bereits die ersten Schritte zurück in Richtung Haus.
Das freut mich. Dann sehen wir uns gleich.
Red spürte ein leises, freundliches Lachen in seinem Kopf vibrieren.
Dann war die Stimme verschwunden.
Ein wenig wunderte Red sich selbst, dass er den Weg ins zweite Stockwerk ohne Mühe wiederfand. Der Treppenaufgang und der Korridor lagen im Schatten. Alles war still. Nur die Stufen knarrten, als er behutsam hinaufstieg. Eine der vier Türen auf dem oberen Flur war nur angelehnt. Fahles Licht fiel durch den Spalt.
Unsicher warf Red einen Blick zu der Wendeltreppe am Ende des Gangs. Ob Céleste dort oben war? Sein Instinkt drängte ihn, hinaufzugehen und nachzusehen.
Aber die Anziehung, die von dem schmalen Türspalt ausging, war in diesem Augenblick eindeutig größer.
Mit weichen Knien tappte Red darauf zu.
»Kris?« Mehr als ein Flüstern bekam er nicht heraus.
Im gleichen Moment öffnete sich die Tür, und vor Red stand der Vampir, der ihn gerufen hatte.
Erschrocken zuckte Red zusammen.
»Schön, dass du da bist.« Kris’ Zähne schimmerten im schwachen Licht, als er lächelte.
»Wunderschön. Und dunkel …«
Blue hatte so recht gehabt.
Red hatte den Vampir noch nicht oft gesehen. Aber er schien ihm jedes Mal schöner zu sein. Und dunkler.
Kris trat zur Seite. »Komm rein.«
Zögernd machte Red zwei Schritte in den Raum. Sein Herz hämmerte nun wie verrückt.
Das Zimmer war groß, aber sparsam eingerichtet. Die wenigen Möbel waren aus schmucklosem, dunklem Holz, und vor dem Fenster bewegten sich dicke Vorhänge im leichten Wind, der draußen aufgekommen war.
»Bitte, setz dich.« Kris deutete mit der Hand auf ein Sofa in einer Ecke des Raums.
Befangen tappte Red über den dicken Teppich und ließ sich vorsichtig auf der Sofakante nieder.
Die schwarzen Augen des Vampirs verfolgten jede seiner Bewegungen.
»Nervös?« Er hob in freundlichem Spott eine Braue.
Red biss sich auf die Unterlippe. Dann nickte er. Sagen konnte er nichts. Seine Kehle war zu trocken. Kris hatte ihn gerufen, weil er von ihm trinken wollte. Soviel war klar. Aber Red war sich nun durchaus nicht mehr sicher, ob dieser Vorgang so angenehm sein würde, wie er es von der Prüfung in Erinnerung hatte. Schließlich war er zu diesem Zeitpunkt schon beinahe ohnmächtig gewesen.
Seine Hände zitterten, und er schwitzte.
Als Kris’ Hand seine Schulter berührte, fuhr er heftig zusammen.
»Es wird überhaupt nicht schlimm.« Die Stimme des Vampirs war wie ein weiches, schwarzes Tuch, das sich über Reds aufgewühlte Nerven legte. »Das verspreche ich dir.«
Red sah in stummer Faszination zu ihm auf. Das graue Licht ließ den Kontrast zwischen Kris’ schwarzen Augen und Haaren und der fast weißen Haut noch
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