Die Blutgabe - Roman
weiter, während er sich bemühte, in den Rhythmus seiner Schritte zurückzufinden. Das Atmen begann in seinen Lungen zu schmerzen, doch er ignorierte es. Er würde jetzt nicht aufgeben!
Kurz vor der Mauer holte er Chase ein. Steil ragte die Wand vor ihm auf. Im Klettern war er gut.
»Gleichzeitig!«, keuchte Chase.
Red sprang. Seine Finger fanden an der oberen Kante der Wand Halt, er zog sich hoch, schwang die Beine hinüber und ließ sich auf der anderen Seite einfach fallen. Auf weichen Knien landete er im Matsch und lief stolpernd weiter. Allmählich spürte er seine Glieder nicht mehr. Das Blut pochte in seinen Ohren. Seine Füße bewegten sich wie von allein. Seine Gedanken wurden taub.
Er würde umfallen, dachte Red, er würde einfach umfallen. Aber erst, wenn er am Ziel war. Dieses Mal, dieses eine Mal, würde er der Erste sein. Der Schnellste. Der Gedanke gab ihm Kraft und trieb ihn vorwärts – immer Seite an Seite mit Chase.
Unter dem Maschendrahtnetz hatte sich Regenwasser zu einer riesigen Pfütze gesammelt, das Red in Mund und Augen spritzte, als er hindurchrobbte. Chase war ihm schon wieder fast einen Meter voraus, also zwang Red sich weiter voran, rappelte sich auf und rannte weiter. Schneller. Immernoch schneller. Die Welt um den Weg vor ihm verschwand in einem schwarzen Tunnel.
Wie in Trance sprang er über die Trittsteine, die über den zweiten Graben führten. Griff nach dem Seil, um sich das letzte Stück hinüber zu schwingen. Dann der steile Anstieg auf eine hölzerne Plattform. Und schließlich der Geröllabhang, über den sie rutschend und strauchelnd auf die Zielgerade gelangten.
Chase war noch immer neben ihm. In dreihundert Metern Entfernung sah Red Tony bei der Hütte auf sie warten. Mit hartem Griff packte Chase ihn am Arm. »Los!«
Und noch bevor Red wusste, wie ihm geschah, hatte er zum Endspurt angesetzt und riss ihn einfach mit sich.
Reds Beine waren wie Federn. Er hatte das Gefühl, über die Bahn zu fliegen. Seine Brust drohte zu explodieren. Seine triefenden Hosenbeine klatschten gegen seine Waden wie Peitschenschläge, die ihn zu noch schnellerem Lauf antrieben. Noch hundert Meter. Noch fünfzig. Noch zwanzig. Noch zehn …
Dann waren sie am Ziel, schossen an Tony vorbei auf die Hütte zu, noch gute fünfzig Meter weit, liefen, liefen, liefen immer weiter – bis Red es endlich schaffte, seinen Beinen den Befehl zu übermitteln, das Laufen einzustellen.
Und noch immer hielt Chase ihn am Arm fest.
Die Welt um Red herum schwankte. Der Boden gab unter ihm nach, als er taumelnd langsamer wurde.
Und als er endlich stehen blieb, spürte er auch wieder den Regen auf seiner Haut.
Mit gewichtigen Schritten kam Tony zu ihnen herüber.
»Sieben Minuten neunundvierzig«, hörte Red ihn wie aus weiter Ferne sagen. »Na geht doch.«
Verzweifelt um Atem ringend lehnte Red sich an die Wand der Hütte. Die Luft brannte in seinen Lungen. Vor seinen Augen flimmerte es.
Was war das? Wie schnell waren sie gewesen?
Eine Hand stemmte sich gegen seine Schulter. Chase starrte ihn zwischen tropfenden Haarsträhnen hindurch aus seinen hellen Augen an. Das wilde Grinsen war noch immer auf seinem Gesicht. Sein keuchender Atem klang wie abgehacktes Lachen.
»Teufel …«, ächzte er. »Teufel noch mal …«
Und zum ersten Mal seit er mit dem Training begonnen hatte, glaubte Red zu sehen, dass Chase am Ende war. Am Ende – und vollkommen zufrieden.
Mit einem weiteren Keuchen ließ Chase sich neben Red gegen die Wand sinken. Gemeinsam beobachteten sie, wie auch Sarah – fast zwei Minuten nach ihnen – das Ziel erreichte.
Red konnte noch immer kaum etwas hören außer dem Tosen des Blutes in seinen Ohren und dem rasenden Klopfen seines Herzens. Jeder Atemzug schmerzte. Aber er hatte sich noch nie so gut gefühlt. Dieser Stolz war ihm jeden Schmerz wert.
Er war eine neue Bestzeit gelaufen.
Gemeinsam mit Chase.
Er hatte es geschafft.
»Ihr seid wahnsinnig«, murmelte Sarah, als sie – selbst noch völlig außer Atem – bei ihnen ankam. Sie war tief beeindruckt, das sah Red ihr an. Und es tat ihm unglaublich gut, das zu sehen.
Nach und nach erreichten auch die restlichen
Vier die Hütte. Tony musterte sie mit seinem grimmigen Blick, einen nach dem anderen.
Lange Zeit sagte er gar nichts.
»Nehmt euch ein Beispiel«, knurrte er dann und wandte sich um. »Zum Schießplatz. Aber zügig.«
Beim Schießen auf die Puppen schnitt Red an diesem Tag erbärmlich ab. Den Kopf noch
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