Die Blutgabe - Roman
sich erneut. Sie waren nun mitten in der Stadt.
Die Gelegenheiten, bei denen sich über ihnen ein Abflussgitter wie ein Fenster zur Welt auftat, wurden immer häufiger, je weiter sie vorankamen. Jedes Mal sah Red nach oben, wenn sie vorbeigingen. Und jedes Mal schien ihm die Stadt ein bisschen dunkler geworden zu sein. Ein bisschen stiller. Ein bisschen verkommener.
Auch der Tunnel veränderte sich. Die Wände bekamen mehr und mehr Risse. Es begann, nach Fäulnis und Verwesung zu riechen.
Schließlich blieb Chase an einer Stelle stehen, wo eine Metallplatte in der Tunneldecke einen Weg nach draußen anzeigte. Ein paar rostige Sprossen führten an der Wand nach oben. Noch einmal wandte Chase sich zu Red um und legte den Finger auf die Lippen.
Dann begann er, die Sprossen hinaufzuklettern.
Red folgte ihm, obwohl seine Glieder mittlerweile vor Aufregung so sehr zitterten, dass er bei jedem Schritt fürchtete, die Sprosse zu verfehlen. Das Gewicht des Revolvers an seiner Seite war ihm plötzlich sehr bewusst. Gleich würde er zum ersten Mal in seinem Leben einem Bluter gegenüberstehen. Vielleicht sogar einen Bluter töten. Reds Kleidung war nass von Schweiß, obwohl die Luft im Tunnel kühl war.
Knirschend schob sich die Metallplatte zur Seite.
Draußen war der Nebel erhellt von diffusem rotem Licht. Als Red nur kurz hinter Chase den Tunnel verließ, die Nachtsichtbrille von seiner Nase nahm und sich umsah, fand er sich in einer schmalen Gasse wieder, die halb im spärlichen Licht, halb in finsterem Schatten lag. Unrat stapelte sich in den Rinnsteinen. Eine Katze, die im Müll nach Ratten gejagt hatte, sprang erschreckt davon, als sie die beiden Menschen entdeckte. Zu beiden Seiten ragten die Wände von kastenförmigen, mehrstöckigen Häusern in die Höhe, mit Dreck und Farbe so sehr verschmiert, dass man den eigentlichen Putz nicht mehr sehen konnte.
Niemand war hier unterwegs. Doch in der Ferne konnte Red die Geräusche der belebten Innenstadt hören. Und von überall her schien leises Rascheln und Flüstern an seine Ohren zu dringen.
Chase neigte sich dicht zu ihm herüber. »Komm mit«, wisperte er. »Wir suchen uns einen Beobachtungsposten.«
Red nickte nur zum Zeichen, dass er verstanden hatte.
Hintereinander schlichen sie an den Häuserwänden entlang, immer darauf bedacht, sich im Schatten zu halten. Red hielt den Griff seines Revolvers fest umklammert.
Vor einem der Gebäude blieb Chase schließlich stehen und schaute sich prüfend um.
»Hier rein.«
Red warf ihm einen überraschten Blick zu. Er konnte keine Tür entdecken. Dies musste die Rückseite des Hauses sein.
Doch Chase deutete nur auf ein Fenster, etwa zwei Meter über ihnen, dessen Scheibe zersplittert war. Dann verschränkte er die Hände ineinander und bot sie Red als Trittstufe an. »Geh rauf und mach die Scherben aus dem Rahmen.«
Red spürte, wie ein Schauer seinen Rücken hinablief, doch er nickte erneut.
Es ist wie auf dem Parcours
, versuchte er sich einzureden,
bloß eine Übung auf dem Parcours
.
Aber es half nichts. Das hier war die Wirklichkeit – und es war naiv, zu glauben, dass er sich selbst täuschen könnte, wenn er es nur fest genug versuchte.
Als er nach Chase’ Schultern griff und den Fuß in seine verschränkten Hände setzte, roch er auch an seinem Partner Schweiß. Aber seine Augen glühten, und ein grimmiges Lächeln lag schemenhaft in seinen Mundwinkeln. Chase gefiel das, was er hier tat, erkannte Red. Und nun wünschte er sich, vielleicht doch lieber mit Sarah oder Claire auf seinem ersten Einsatz zu sein – an einem Ort in Kenneth, der nicht ganz so gefährlich war wie die Dirty Feet. Aber dafür war es jetzt definitiv zu spät.
Das Fenster führte in einen dunklen Flur, in dem es nach Moder und feuchtem Staub roch. Red hielt sich an der Fensterbank fest und zerrte mit den Zähnen den Ärmel seinesMantels über seine rechte Hand. Dann begann er, die spitzen Scherben eine nach der anderen aus dem Fensterrahmen zu schlagen – vorsichtig, um nicht zu viel Lärm zu machen.
»Beeil dich!«, zischte Chase unter ihm. »Du bist schwer, verdammt!«
Red leckte sich über die staubtrockenen Lippen und beeilte sich. In der Stille der Gasse hatte er das Gefühl, dass das scharfe Klirren laut genug war, um Tote aufwecken zu können. Endlich hatte er auch die letzte Scherbe entfernt und stemmte sich ganz auf die Fensterbank. Einen Moment noch verharrte er und lauschte in die stummen Schatten des Gebäudes hinein.
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