Die Blutgabe - Roman
Doch da war nichts. Nichts und niemand.
Eilig schlüpfte Red in den Korridor. Schemenhaft konnte er die Umrisse mehrerer Türen erkennen. Manche von ihnen hingen schief in ihren Angeln oder lagen zersplittert auf den gesprungenen und verschmierten Kacheln.
»Red!«
Beim plötzlichen Klang von Chase’ Stimme fuhr Red zusammen. Er lief zum Fenster, um hinauszusehen. Chase stand unten, in der Hand den Beutel, den er bisher auf dem Rücken getragen hatte.
»Nimm den Rucksack!«, zischte er.
Red streckte den Arm aus und zog den Beutel zu sich herein. Er war schwer, und Red fragte sich, was Chase da wohl mit sich herumschleppte.
Ein Kratzen und Schaben an der Außenwand kündigte Chase’ Erscheinen an. Er kroch durch das Fenster und landete mit einem kleinen Sprung neben Red.
»So«, meinte er gedämpft und nahm Red den Rucksack aus der Hand, um ihn erneut zu schultern. »Und jetzt – weiter nach oben.«
Er deutete mit dem Kopf in Richtung einer Tür. Anders als die anderen bestand sie aus Metall und war noch vollkommen intakt. Als Chase an der Klinke zog, öffnete sie sich mit einem grässlichen Kreischen. Red spürte, wie sich bei dem Geräusch die Härchen an seinen Armen und in seinem Nacken aufstellten.
Chase drehte sich zu ihm um. »Mach nicht so ein Gesicht«, sagte er. »Hier wohnt keiner mehr. Das riecht man doch.«
Red runzelte die Stirn. »Wie meinst du das?«
»Riechst du hier Verwesung?«, fragte Chase zurück. Hinter der Metalltür war eine Treppe aus Stahlgitter zum Vorschein gekommen, die sowohl nach oben als auch nach unten führte.
Red schnupperte. Nein, dachte er, nach Verwesung roch es hier tatsächlich nicht. Und das war also ein Zeichen dafür, dass es keine Vampire gab? Nun ja. Chase würde wissen, wovon er sprach. Zumindest hoffte Red das.
»Und das hast du schon von draußen gerochen?« Mit vorsichtigen Schritten folgte er Chase die Treppe hinauf. Die Stufen schepperten und quietschten unter seinen Stiefeln.
Chase sah sich kurz nach ihm um. Dann lachte er sein trockenes Lachen.
»Nein«, sagte er. »Das hab ich mir nur gedacht. Solche alten Hochhäuser stehen meistens leer. Verlassene Menschenwohnungen. Höchstens neugeborene Bluter hocken manchmal hier drin.«
»Höchstens neugeborene Bluter!«, wiederholte Red entgeistert.
Unwillkürlich tauchte das Bild vor seinem inneren Auge auf, wie er selbst durch das zerschlagene Fenster kroch und bereits von einem geifernden Vampir erwartet wurde.
»Aber die sind um diese Zeit noch nicht ganz wach. Ein Schuss und sie sind platt. Kein Grund, sich in die Hosen zu machen.«
Red schluckte und verkniff sich einen weiteren Kommentar. Er wollte vor Chase nicht ängstlich wirken. Aber er konnte nicht verhindern, dass seine Knie anfingen zu zittern und er sich regelrecht zwingen musste, weiter die klappernden Stufen hinaufzusteigen.
Im fünften Stock verließen sie das Treppenhaus und gelangten durch eine weitere Metalltür in einen Flur, der ähnlich heruntergekommen war wie der erste. Zielstrebig steuerte Chase auf eine Tür zu, die am Ende des Ganges lag. Das Schloss war herausgebrochen worden.
Hinter der Tür befand sich ein Raum, von dem eine zweite Tür in ein kleines Badezimmer führte – oder etwas, das einmal ein Badezimmer gewesen war. Morscher, fleckiger Teppich bedeckte den Boden. Ein Regal lag umgestürzt und zerborsten vor der Wand neben einem Sofa, aus dessen aufgeschlitztem Bezug rostige Spannfedern ragten. An der vergilbten Tapete wuchsen Flechten und schwarze Schimmelteppiche.
Chase trat zu einem der blinden Fenster und zerrte an seinem Griff, bis es sich öffnete. Dann ließ er den Rucksack neben sich zu Boden gleiten.
Red blieb unschlüssig in der Mitte des Raums stehen und sah ihm zu.
»Was hast du da eigentlich drin?«, fragte er und ärgerte sich über das Beben in seiner Stimme.
Chase, der sich hingehockt hatte und in der Tasche kramte, sah auf. Ein Grinsen erschien auf seinem Gesicht, und er zog etwas aus dem Rucksack hervor.
Einen Plastikbeutel, der Red sehr bekannt vorkam.
»Blutkonserven!«, stieß er überrascht hervor.
Chase nickte. »Köder.«
Er richtete sich auf und zog ein Messer aus einem Halfter, das er sich um den Oberschenkel gebunden hatte.
»Dann wollen wir sie mal aus ihren Löchern locken.«
Er stieß das Messer in den Beutel. Als er es wieder zurückriss, floss Blut über seine Hand. In hohem Bogen warf Chase den Beutel aus dem Fenster. Mit einem Platschen kam er auf der Straße auf.
Red
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