Die Blutgabe - Roman
Wort.
»Du solltest längst im Bett sein«, stellte Cedric fest und warf ihr einen prüfenden Blick zu. »Hattest du Sehnsucht?«
Nun lächelte sie doch. »Schon möglich.«
Cedric hob belustigt die Brauen. »Ich fühle mich geschmeichelt. Aber ich fürchte, du musst dich noch einen Moment gedulden. Dieser hundertseitige Bewilligungsantrag verlangt meine volle Aufmerksamkeit.« Er klopfte vielsagend auf den Stapel Papier, der vor ihm lag.
»Kein Problem.« Katherine zog die Tür hinter sich ins Schloss. »Ich kann warten.«
»Das ist ganz reizend von dir.« Cedric lächelte spöttisch und griff nach seinem Stift, um eine Textpassage zu markieren.
Katherine spürte, wie es in ihrem Inneren angenehm warm und ruhig wurde, während sie sich auf seinen Besucherstuhl setzte und ihm beim Lesen zusah. Sie wusste, wie sehr Cedrices hasste, Formulare auszufüllen – und dass der Besuch des Gutachters positiv verlaufen war, bedeutete leider nicht, dass er die Anträge für die Forschungsgelder im nächsten Jahr nicht zu stellen brauchte. Sicher waren es bei weitem keine hundert Seiten. Aber für Cedric wäre auch schon ein dreiseitiger Antrag Grund zur Klage gewesen. Überhaupt schien Cedric nie zufrieden zu sein, wenn er keinen Anlass für stilles Leiden hatte. Doch obwohl sein Zynismus von Zeit zu Zeit recht anstrengend sein konnte, war es doch gerade diese stets mit bitterer Belustigung vorgetragene Schwermut, die ihn für Katherine so anziehend machte. Sie bewunderte Cedric seit dem Tag, an dem er sie eingestellt hatte, um seine persönliche Assistentin zu werden. Natürlich würde sie sich hüten, solche Gedanken vor ihm verlauten zu lassen, doch bei ihm fühlte sie sich sicher. Ihm vertraute sie und fühlte sich von ihm verstanden. Und er war der Einzige, bei dem sie ihre Angst vergessen konnte. Diese Angst, von der Katherine nicht wusste, woher sie kam.
Weil sie ja auch von sich selbst nicht wusste, woher sie kam.
Endlich legte Cedric den Stift zur Seite.
»So, mein Herz. Jetzt bin ich ganz für dich da.« Er lehnte sich ein Stück nach vorn und musterte sie aufmerksam. »Was kann ich für dich tun?«
Katherine zögerte. Unter Cedrics gelassenem Blick kamen ihr ihre Sorgen plötzlich albern vor.
»Nichts, ich … wollte dich nur sehen.« Sie lächelte zaghaft.
Cedrics gelbe Augen schienen direkt hineinsehen zu können. Er glaubte ihr nicht. Natürlich nicht.
»Du bist angespannt«, bemerkte er.
Katherine presste für einen Moment die Lippen zusammen. Was machte es für einen Sinn, nicht die Wahrheit zu sagen? Ein gutes Gespür für Lügen war nicht alles, was Cedric zu bieten hatte. Wenn er wollte, konnte er jeden ihrer Gedanken sehen. Sogar die, von denen sie selbst nichts ahnte.
»Ein wenig«, murmelte sie.
Cedrics Gesicht blieb unverändert ernst. Nur seine Augen lächelten.
»Und willst du mir erzählen, warum?«
Katherine schwieg. Nein, sie wollte nicht. Sie wusste ja, was er sagen würde. Das nämlich, was er auch in der Nacht schon gesagt hatte: Dass sie sich keine Sorgen machen sollte.
»Ich würde … heute gern bei dir schlafen, wenn ich darf«, sagte sie schließlich leise.
Cedric hob die Brauen, und Katherine konnte sehen, dass er sich nun ernsthaft zu fragen begann, was vorgefallen war.
»Wir … könnten die Sitzung nachholen, die gestern ausgefallen ist«, fügte sie daher schnell hinzu.
Cedric runzelte die Stirn. Sicher, dachte Katherine, ihm war klar, dass es ihr nicht darum ging. Er wusste, dass sie nicht gerade wild darauf war, einen weiteren Ausflug in ihre Erinnerung zu unternehmen. Was sie bisher über ihre Vergangenheit erfahren hatte, war genug, um für den Rest der Unendlichkeit davon verschont bleiben zu wollen. Und er wusste auch, dass sie die Therapie seit Jahren nur der Forschung zuliebe fortsetzte. Ihm zuliebe.
Aber er würde nicht fragen. Dazu war er zu rücksichtsvoll.
»Selbstverständlich.« Er nickte langsam und griff nach dem Funksender, um ein paar Knöpfe zu drücken. »Ich habe sowieso genug von diesem Papierkram. Wir können gleich fahren.«
Kurz darauf knackte und piepte es im Gerät, und eine Uhrzeit erschien auf dem Display.
Cedric warf einen Blick auf die Uhr an der Wand seines Büros. Sie zeigte drei Minuten nach Sieben. »Der Fahrdienst kommt um sieben Uhr neun.« Er stand auf und zog seinen Kittel aus. »Gehen wir runter.«
Sie warteten im Schatten des Eingangs, während sie beobachteten, wie das Auto mit den schwarz getönten Scheiben die
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