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Die Blutgraefin

Die Blutgraefin

Titel: Die Blutgraefin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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Feuers hatte, über ihr Kleid glitt. Ihr Geruch hüllte ihn
ein, und Andrejs Herz hörte auf zu schlagen.
»Jetzt komm näher, Andrej«, sagte Gräfin Berthold, während sie
selbst einen einzelnen Schritt vorwärts tat, wodurch ihr Gesicht ins
Licht des flackernden Kaminfeuers geriet, sodass Andrej es zum ersten Mal sehen konnte.
Nein!
Nicht zum ersten Mal.
Und er sah es nicht bloß - er erkannte es, erkannte sie.
Es war nicht Gräfin Berthold, die vor ihm stand. Jedenfalls kannte
er sie nicht unter diesem Namen.
Es war Maria.
Das war doch vollkommen unmöglich! Seit jener entsetzlichen
Nacht in Transsylvanien, in der sie sich voneinander verabschiedet
hatten, um sich niemals wieder zu sehen, waren mehrere Jahrzehnte
vergangen. Maria musste mittlerweile eine uralte Frau sein. Die Frau,
die ihm gegenüberstand, stand in der Blüte ihrer Jahre.
Und doch war sie es.
Es gab nicht den geringsten Zweifel. Ihr Haar, das in ungezügelten
Wellen bis weit über ihren Rücken hinabfloss, war dasselbe, in dem
er in seinen Träumen unzählige Male das Gesicht vergraben hatte.
Die Konturen ihres vertrauten Antlitzes waren dieselben, die er in
seiner Fantasie tausendfach mit den Fingerspitzen und den Lippen
nachgezeichnet hatte. Ihre Augen, in denen man sich für immer verlieren konnte, waren dieselben, die er jedes Mal vor sich sah, wenn er
die Lider schloss. Er hatte ihre Stimme schon erkannt, als er hereingekommen war, hatte es aber nicht glauben wollen, aus Angst, wieder grausam enttäuscht zu werden. »Andrej«, sagte sie leise.
Dieses eine Wort nahm ihm den letzten Zweifel. Es konnte keinen
zweiten Menschen auf der ganzen Welt geben, der seinen Namen so
wie sie ausgesprochen hätte. Er starrte sie an, ohne zu atmen, ohne zu
blinzeln, sogar ohne zu denken.
Es war Maria.
Sie war da.
Sie lebte.
Und sie waren wieder zusammen.
Er wollte sie in die Arme schließen, die berauschende, viel zu lange
entbehrte Wärme ihres Körpers spüren, sie an sich ziehen, um sie nie
wieder loszulassen, seine Lippen auf die ihren pressen. Aber er stand
wie gelähmt vor ihr und fühlte sich mit einem Mal verbraucht und
müde, wie er es niemals zuvor kennen gelernt oder auch nur für möglich gehalten hätte. Er war am Ende einer Reise angelangt, die ein
Menschenalter gedauert hatte. Doch der Sturm von Gefühlen, den er
erwartet hatte, blieb aus.
»Du bist es wirklich«, brach Maria schließlich das Schweigen. Der
Schein des Feuers, der auf ihrem Gesicht flackerte und es mit ständiger Bewegung erfüllte, machte es nahezu unmöglich, darin zu lesen.
»Ich wusste es. Ich habe es schon gewusst, als Blanche das erste Mal
von euch erzählte. Aber ich wagte nicht, daran zu glauben.«
Andrej war immer noch nicht fähig, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Eine dünne, bange Stimme in seinem Inneren warnte
ihn, dass es auch diesmal ein Traum war, nur ein Traum sein konnte,
und das Trugbild sich in nichts auflösen musste, sobald er es berührte.
Maria lachte. Ihr Haar floss, einem Strom aus flüssigem Feuer
gleich, über ihre Schultern und schien mit dem kostbaren Brokatstoff
ihres Kleides zu verschmelzen. Sie strahlte reine Sinnlichkeit aus.
Alles, was Andrej sich wünschte, war dazustehen und sie zu betrachten, das Bild, das er so oft in seiner Erinnerung heraufbeschworen
hatte, nun endlich auch in Wirklichkeit zu sehen. Auf diesen Augenblick hatte er so unendlich, so quälend lange gewartet. Doch das
Warten hatte sich gelohnt, selbst, wenn dieser Anblick das Letzte
war, was er in seinem Leben sehen sollte.
»Seltsam - ich hätte erwartet, dass du dich mehr freust, mich wieder
zu sehen«, sagte Maria. Sie lachte erneut, leiser jetzt.
»Verzeih«, sagte er endlich unbeholfen. »Ich war nur…«
»… überrascht?«, sprang ihm Maria bei, als er mitten im Satz abbrach. Sie nickte. »Ja. Natürlich bist du überrascht. Bitte entschuldige - ich glaube, ich bin dir gegenüber ein wenig unfair.« Sie löste
sich von ihrem Platz am Kamin und kam mit schwerelos wirkenden
Schritten auf ihn zu. Eine Armeslänge von ihm entfernt blieb sie stehen. Sie musste den Kopf in den Nacken legen, um ihm in die Augen
blicken zu können. Sonderbar - er erinnerte sich nicht daran, dass sie
um so vieles kleiner als er gewesen war.
Die Zeit stand still. Andrej konnte nicht sagen, wie lange sie sich so
gegenüberstanden - schweigend, wie erstarrt. Es reichte ihnen, den
anderen anzublicken, seine bloße Gegenwart aufzusaugen wie ein

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