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Die Blutgraefin

Die Blutgraefin

Titel: Die Blutgraefin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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Lebenselixier, das ihnen zu lange vorenthalten worden war. Am Ende war es wieder Maria, die das Schweigen brach. »Andrej«, begann
sie, »es ist schön, dich wieder zu sehen.«
Ein Teil von ihm begehrte nichts anderes, als sie in die Arme zu
schließen und an sich zu pressen, doch es gab etwas, das ihn verunsicherte und erschreckte. Er fühlte sich wie ein Verräter, als die erste
Frage, die schließlich über seine Lippen kam, Zweifel und Ungläubigkeit ausdrückte: »Aber wieso… Es ist so viel Zeit vergangen.
Mehr als ein halbes Jahrhundert.«
»Ich weiß«, sagte Maria. »Und ich habe die ganze Zeit auf dich
gewartet. So wie du auf mich.«
Andrej schüttelte den Kopf. Seine Lippen waren so trocken, dass er
sie mit der Zunge befeuchten musste, um weitersprechen zu können.
»Du scheinst nicht um einen Tag gealtert zu sein.«
»Und du bist der gleiche Schmeichler geblieben, der du immer
warst.« Maria lächelte, hob die Hand und drohte ihm spielerisch mit
den Fingern. »Vielleicht sollte ich mir doch überlegen, ob es sich
wirklich gelohnt hat, all die Zeit auf dich zu warten«, sagte sie. »Anscheinend erinnerst du dich nicht so gut an mich, wie du behauptest.
Ich bin älter geworden. Dreieinhalb Jahre, um genau zu sein.«
Andrej sah sie verwirrt an.
»Bist du hungrig?«, fragte Maria.
»Hungrig?«, wiederholte Andrej fassungslos.
»Du hast den ganzen Tag in diesem grässlichen Gasthaus zugebracht«, sagte Maria. »Ich kenne die Köstlichkeiten, die dort serviert
werden. Du musst hungrig sein.« Sie wies auf die andere Seite des
Raumes. Obwohl es ihm schwer fiel, den Blick von ihrem Gesicht zu
lösen, wandte er den Kopf. Dort befand sich ein wuchtiger Eichentisch mit zwei einzelnen, geschnitzten Stühlen, auf dem ein wahres
Festmahl vorbereitet war. Andrej hatte beim Eintreten weder den
Tisch noch die beiden Kerzen, die jenen Teil des Zimmers in mildes,
gelbes Licht tauchten, bemerkt. Irgendetwas an diesem Bild stimmte
nicht, doch er hätte nicht in Worte fassen können, was es war.
»Elenja hat den halben Tag damit verbracht, dieses Mahl zuzubereiten. Wir sind hier nicht auf Gäste eingerichtet, weißt du?«
Andrej erschien die Szene immer unwirklicher. Das war der Moment, auf den sie beide seit einer Ewigkeit gewartet hatten - und sie
sprachen über das Essen? Trotzdem nickte er nur.
Das schien Maria als Antwort jedoch zu genügen. Sie ging an ihm
vorbei und blieb zwei Schritte von ihm entfernt stehen, um sich dann
halb zu ihm umzudrehen und ihm auffordernd zuzuwinken.
Diese unbedeutende Geste durchbrach Andrejs Lähmung endgültig.
Es war, als bräche ein Damm. Mit einem einzigen Schritt war er bei
ihr und ergriff sie bei den Schultern. Als sie sich überrascht umwandte, legte er beide Hände um ihr Gesicht. Maria setzte noch dazu an,
etwas zu sagen, möglicherweise versteifte sie sich sogar für den
Bruchteil eines Augenblicks, wie um seine Hände abzustreifen und
sich aus seiner Umarmung zu lösen, doch nichts von alledem spielte
eine Rolle für Andrej. Er zog sie an sich und presste seine Lippen auf
die ihren.
Ihr Kuss war nicht so süß, wie er ihn in Erinnerung hatte. Er war
tausendmal süßer. Die Welt erlosch, wurde unwirklich, unwichtig. Es
gab nur noch ihre Lippen, deren unendliche Weichheit, deren Geschmack er so lange vermisst hatte. Andrej versank in dieser Berührung wie ein Ertrinkender in einem Strudel, der sich urplötzlich unter
ihm aufgetan hatte. Er versuchte nicht einmal, sich zu widersetzen,
sondern überließ sich diesem Wirbel willenlos. Seine Hände lösten
sich von ihrem Gesicht, fuhren ihren Hals entlang und über ihre
Schultern, tasteten über die Linien ihres Körpers, die ihm so vertraut
erschienen, als habe er sie erst einen Tag zuvor zum letzten Mal berührt. Er streichelte ihren Rücken, ihre Arme. Die letzten Jahrzehnte
waren ausgelöscht. Sie waren wieder in Transsylvanien, in der
Nacht, nach der sich alles ändern sollte. Er hielt sie in den Armen,
spürte ihre Wärme, roch ihren betörenden Duft und genoss das Feuer, das das bloße Wissen um ihre Nähe in ihm entfachte.
Schließlich lösten sich Marias Lippen von den seinen. Zugleich legte sie beide Hände auf seine Brust, um ihn sanft, aber nachdrücklich
ein kleines Stück von sich wegzuschieben. »Später«, hauchte sie atemlos. »Wir haben doch alle Zeit der Welt.«
Andrejs Enttäuschung war so tief, dass sie körperlich schmerzte.
Aber dann nickte er nur stumm. Maria hatte Recht. Der

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