Die Blutgraefin
setzte das Glas ab
und begann, mit der Fingerspitze die winzigen Tropfen verschütteten
Weins aufzuwischen, die Elenjas Ungeschick auf der Tischplatte
hinterlassen hatte, um sich anschließend die Finger abzulecken. »Du
hast ihn ja kennen gelernt, Andrej, obwohl ich fürchte, du hast einen
falschen Eindruck von ihm.«
»Ach?«, machte Andrej. »Wieso?«
»Weil es jedem so geht, der ihn nicht wirklich kennt. Manchmal
glaube ich fast, dass genau das seine Absicht ist.«
»Was hat er dir angetan?«, fragte Andrej. Seine Stimme klang nicht
so ruhig, wie er es beabsichtigt hatte, aber das schien Maria nicht zu
überraschen. Sie sah ihn nur einen Herzschlag lang durchdringend an
und lächelte dann nachsichtig.
»Er hat mich gerettet«, erwiderte Maria. »Aber er tat noch weitaus
mehr. Ich glaube, du weißt, was.« Sie tupfte einen weiteren Tropfen
Wein von der Tischplatte und strich sich die blutfarbene Flüssigkeit
auf die Unterlippe. Es fiel Andrej schwer, bei dem Anblick gelassen
zu bleiben. Aus seiner Verwirrung wurde Furcht; aus dieser Furcht
Hass. Hass, der dem weißhaarigen Fremden galt. Er verstand. Maria
war kaum gealtert, seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten. Obwohl er - ganz wie bei Blanche - auch in ihrer Nähe nichts von alledem spürte, was er eigentlich in Anwesenheit eines anderen Unsterblichen hätte spüren sollen, war ihm klar, dass der Namenlose genau
das getan hatte, was er, Andrej, immer hatte verhindern wollen: Er
hatte ihr die Unsterblichkeit geschenkt, aber zu welchem Preis?
»Ich konnte nicht auf dich warten, Andrej«, begann Maria. Ihre
Stimme wurde leiser, und obwohl ihr Blick direkt auf ihn gerichtet
war, schien er geradewegs durch ihn hindurchzugehen, um sich auf
einen Punkt in einer unendlich weit zurückliegenden, grausamen
Vergangenheit zu richten. Er fühlte den Schmerz, den es ihr bereitete, darüber zu sprechen. »Die Männer des Sultans verfolgten uns.
Wir mussten fliehen und uns verstecken. Wir trafen auf barmherzige
Menschen, die uns Unterschlupf gewährten, doch als die Gefahr vorüber war, warst du nicht mehr da.«
Andrej schwieg. Er war sicher, dass es in Wahrheit nicht annähernd
so einfach gewesen war, wie die schlichte Erzählung glauben lassen
wollte, doch für den Moment mochte diese Erklärung genügen. Mit
einem knappen Nicken forderte er sie auf fortzufahren.
»Wir wurden getrennt«, sagte Maria. »Es war eine schlimme Zeit.
Für eine Weile musste ich mich allein durchschlagen. Ich konnte
mich meistens verstecken. Irgendwann haben sie mich dann doch
gefangen genommen.« Obwohl ihre Stimme nicht leiser wurde, verlor sie ihre Lebendigkeit. Der Schmerz in ihren Augen vertiefte sich.
Andrej begriff, dass das, was sie mit dürren, unbeteiligt klingenden
Worten erzählte, Jahre voller Grausamkeit und Furcht umfasste. Er
hatte kein Recht, ihr Fragen zu stellen.
»Ich war zwei Jahre ihre Gefangene«, schloss Maria. »Dann wurde
ich befreit.«
»Von Blanche?«, vermutete Andrej.
Maria nickte. Sie hatte den letzten Tropfen roten Weins von der
Tischplatte getupft und fuhr sich mit der feuchten Fingerspitze über
die Lippen. Der Anblick erfüllte Andrej mit einem vagen Unbehagen, das er sich nicht erklären konnte. »Es war nicht allzu weit von
hier entfernt«, fuhr Maria fort. »Sie hatten mich und zwei andere
Frauen in ein Zelt gesperrt, und sie kamen zwei- oder dreimal am
Tag, um eine von uns zu holen. Dann wurde das Lager angegriffen.
Ich war gefesselt und die Zeltplane geschlossen. Ich dachte, es sei
eine ganze Armee. Aber es war nur ein einzelner Mann.« Sie schüttelte den Kopf. »Er hatte alle… erschlagen.«
Das fast unmerkliche Stocken entging Andrej nicht. Sie hatte ein
anderes Wort benutzen wollen. Er wusste, welches.
»Und dann?«, fragte er, als sie nicht weitersprach.
»Sie waren alle tot«, antwortete Maria. »Auch die anderen Frauen.
Ich war schwer verwundet. Ich wäre gestorben, hätte er mich nicht
gerettet.«
Ein kurzer Schauer, wie von Tausenden kleiner Spinnenbeine verursacht, lief über seinen Rücken.
»Er hat mich gerettet«, wiederholte Maria tonlos, »und machte
mich zu dem, was ich nun bin.«
»Und seither seid ihr zusammen«, vermutete Andrej.
»Ja«, sagte Maria. »Aber nicht so, wie du meinst.«
Andrej schwieg betroffen. Er hatte ihr nicht zu nahe treten wollen.
Dennoch erfüllte ihn Marias Entgegnung mit einer Mischung aus
Erleichterung und Freude darüber, dass es ihr wichtig war, ihn ihrer
Treue zu
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