Die Blutgraefin
Augenblick
war zu kostbar, um ihn in einem einzigen Moment entfesselter Sinneslust zu verschwenden. Er trat einen halben Schritt zurück und
zwang ein verständnisvolles Lächeln auf seine Lippen, das Marias
Gesicht zufolge wohl eher zu einer Grimasse zu geraten schien.
Um die Situation nicht noch unangenehmer werden zu lassen, folgte er Maria hastig zum Tisch. Die beiden Stühle waren an den gegenüberliegenden Kopfenden des großen Tisches aufgestellt, sodass
zwischen ihnen eine Distanz von annähernd drei Metern lag, wie
Andrej mit einem Gefühl der Enttäuschung zur Kenntnis nahm. Er
wollte seiner Geliebten so nahe wie möglich sein. Maria jedoch steuerte ihren Platz mit einer Selbstverständlichkeit an, die mehr als alle
Worte bewies, dass sie eine solche Förmlichkeit gewohnt war. Andrej nahm widerwillig auf dem anderen Stuhl Platz. Sofort öffnete sich
die Tür, und das junge Mädchen, das ihn unten begrüßt hatte, kam
herein. Sie balancierte ein Tablett vor sich her, das viel zu groß und
zu schwer für ihre zerbrechliche Gestalt zu sein schien. Darauf befanden sich ein bauchiger Krug, zwei Gläser aus kostbarem, geschliffenem Kristallglas und ein Kerzenleuchter. Mit mehr Eifer als Geschick lud sie ihre Last in der Mitte des Tisches ab, füllte die beiden
Gläser mit einem dunklen, blutfarbenen Wein und servierte erst ihm,
dann ihrer Herrin. Auch dabei stellte sie sich unbeholfen an, und
Andrej musste an Marikas Worte über ihre Ungeschicklichkeit denken. Maria schien in der Tat eine äußerst nachsichtige Dienstherrin
zu sein. Oder aber die Auswahl an geeignetem Dienstpersonal war in
der Abgeschiedenheit des Schlosses so klein, dass sie sich notgedrungen damit abgefunden hatte, bescheiden zu sein.
»Danke, meine Liebe«, sagte Maria, als Elenja das Glas vor ihr abgestellt hatte, den Raum verließ und mit einem zweiten Tablett, das
mit allerlei Speisen beladen war, zurückkam. »Wir bedienen uns
dann selbst. Geh nur hinunter und mach dir einen schönen Abend.
Aber bleib im Haus. Es kann sein, dass ich dich später noch einmal
rufe.«
Das Mädchen entfernte sich hastig und warf im Hinausgehen noch
einen scheuen, aber neugierigen Blick in Andrejs Richtung. Sie
schloss die Tür ein wenig zu laut hinter sich, was Maria nur mit einem verständnisvollen Lächeln quittierte.
»Ich hoffe doch, es macht dir nichts aus, dein Fleisch selber zu
schneiden«, sagte sie spöttisch, als sie den stirnrunzelnden Blick registrierte, mit dem Andrej dem Mädchen gefolgt war. »Gutes Personal ist schwer zu bekommen.«
»Und noch schwerer zu halten?«, entfuhr es Andrej. Die Worte taten ihm sofort Leid, als er Marias Bestürzung gewahr wurde.
Sie nickte ernüchtert. Ein Schatten huschte über ihr Gesicht. »Ich
verstehe«, sagte sie. »Du hast das eine oder andere über mich gehört.« Sie hob abwehrend die Hand, als Andrej etwas erwidern wollte, und fuhr mit einem spöttischen Lächeln fort: »Natürlich, deshalb
bist du ja gekommen. Also - erzähl!«
»Was?«, fragte Andrej ausweichend, um Zeit zu gewinnen.
»Den neuesten Klatsch aus dem Dorf«, antwortete Maria. »Was hat
man dir erzählt? Dass ich einmal im Monat eine Jungfrau schlachte
und ihr Blut trinke?« Sie lachte. »Die Idee ist verlockend, aber sie
hat einen kleinen Schönheitsfehler. Wäre es so, müsste ich wohl verhungern. Die Auswahl an Jungfrauen ist leider nicht allzu groß.«
Andrej wünschte sich, sie würde über andere Dinge sprechen. Natürlich kannte sie den Grund, aus dem er gekommen war. Aber seine
früheren Absichten spielten keine Rolle mehr. Nicht, seit er wusste,
wer Gräfin Berthold in Wahrheit war.
»Erzähl mir von dir«, sagte er.
»Seltsam - dasselbe wollte ich dich auch gerade bitten«, sagte Maria und blinzelte ihm zu. Sie griff mit der linken Hand nach ihrem
Glas, aber nicht um zu trinken, sie spielte nur damit. Das ruhig brennende Licht der Kerzen spiegelte sich auf dem in unzähligen Fassetten geschliffenen Kristall und ließ einen Wirbel winziger, roter
Lichtreflexe auf ihrem Gesicht aufblitzen. »Ja, vermutlich hast du
Recht«, fuhr sie fort. »Es ist wohl an mir, zuerst zu erzählen.«
Sie sprach nicht weiter, sondern schien sich ganz auf das Glas in ihrer Hand zu konzentrieren. Sie drehte es schneller, und die bunten
Lichter huschten noch rascher über ihr Gesicht hinweg. Andrej nahm
all seinen Mut zusammen und fragte geradeheraus: »Was ist mit dir
passiert?«
»Blanche ist mir passiert«, antwortete Maria. Sie
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