Die Blutgraefin
für wenige Wochen, manchmal nur
für Tage, manchmal für Monate. Wir haben versucht, ein Zuhause zu
finden. Aber ich glaube, für Menschen wie uns gibt es so etwas
nicht.«
Auch darauf konnte Andrej nur mit einem traurigen Nicken antworten, denn auch dieser Teil von Marias Geschichte stimmte mit seiner
eigenen überein. Dennoch berührten ihn ihre Worte auf unerwartete
Weise. Heimatlos zu sein und nirgends lange auszuharren, das war
etwas, womit er sich abgefunden zu haben glaubte. Eine weitere Lüge, wie er sich eingestehen musste, die zusammenbrach, als Maria
aussprach, was er selbst lange nicht einmal zu denken gewagt hatte.
Verbitterung stieg in ihm auf.
»Es ist überall dasselbe«, fuhr Maria fort. »Wo immer wir auftauchen. Am Anfang heißen uns die Menschen willkommen und sind
freundlich zu uns, solange sie etwas von uns wollen. Aber irgendwann wird aus ihrer Freundlichkeit Feindschaft, und aus den Blicken,
die sie dir nachwerfen, werden Steine. Sie können dich nicht verletzen. Aber sie tun weh.«
»Ich weiß«, sagte Andrej.
»Wir werden auch hier nicht bleiben können«, fuhr Maria fort.
»Am Anfang dachte ich, dieses Tal sei anders. Ich dachte, die Menschen hier wären weniger misstrauisch.«
»Warum?«
»Dieser Ort ist so weit weg von allem«, antwortete Maria. »Er liegt
zu abgelegen, als dass irgendein Feldherr ihn erobern wollte. Und er
ist zu unbedeutend, als dass die Kirche ihre gierige Hand danach ausstrecken würde. Doch am Ende wird es wieder auf dasselbe hinauslaufen. Wir werden nicht bleiben können.« Sie sog hörbar die Luft
ein und zwang sich, ihm direkt ins Gesicht zu sehen, als sie fortfuhr:
»Es hat schon begonnen.«
Wie gerne hätte Andrej ihr widersprochen. Aber er konnte es nicht.
»Wo ist er jetzt?«, fragte er.
»Blanche?«
Andrej nickte.
»Drüben in seinem Turm, nehme ich an«, antwortete Maria. »Er ist
fast immer dort, wenn er nicht durch die Wälder streift.«
»Streift - oder fliegt?«, fragte Andrej.
»Er liebt die Einsamkeit«, erwiderte Maria, ohne auf seine Frage
einzugehen.
Andrej nahm es hin. »Und du weißt nicht, was er in dieser Zeit
tut?«
»Nichts, wofür er sich rechtfertigen müsste«, antwortete Maria eine
Spur schärfer. »Ich weiß, wofür du ihn hältst. Aber das ist er nicht.«
Andrej dachte an einen verstümmelten Leichnam, dessen Hals zwei
winzige, tödliche Bisswunden aufwies. An das, was ihm Pater Lorenz erzählt hatte. Er schwieg.
»Ich habe ihn niemals Blut trinken sehen.«
»Wir sollten damit aufhören, Maria«, sagte er leise.
»Womit?«
»So zu tun, als hätte es die letzten fünfzig Jahre nicht gegeben«,
antwortete Andrej. »Du bist mir keine Rechenschaft schuldig, so
wenig wie ich dir.« Er hasste sich selbst für seine Worte. Er verabscheute es, hinter allem und jedem Verrat und Betrug zu wittern.
Hatte er sich so sehr daran gewöhnt, unglücklich zu sein, dass er den
Gedanken, es nicht mehr zu sein, nicht ertrug?
»Keiner unserer Art muss wirklich Blut trinken«, fuhr Maria in ihrer Rechtfertigung fort.
Andrej fuhr zusammen. Maria registrierte es und runzelte flüchtig
die Stirn. Sie konnte nicht wissen, was der Grund dafür war: Es war
das Wort unserer. Andrej hatte sich noch nicht an den Gedanken
gewöhnt, dass sie zu etwas geworden war, was er niemals gewollt
hatte. Oder hätte er ihr die Unsterblichkeit geschenkt, wenn ihnen
das Schicksal genug Zeit für diese Entscheidung gelassen hätte? Das
war eine Frage, die seit fünfzig Jahren wie ein schleichendes Gift an
ihm fraß. Er glaubte, diese Frage endlich beantworten zu können. Er
hätte es nicht getan. Vielleicht hätte ihm der Schmerz, sie an seiner
Seite altern und schließlich sterben zu sehen, das Herz gebrochen.
Dennoch hätte er diesen letzten, scheinbar einfachen Schritt nicht
getan. Vielleicht war der Sieg über den Tod, die Unsterblichkeit, der
größte Traum, den die Menschheit je geträumt hatte. Nur die wenigen, für die er in Erfüllung gegangen war, wussten, dass er in Wahrheit ein Albtraum war. Wenn ein allmächtiger Gott oder vielleicht
auch nur eine teilnahmslos planende Schicksalsmacht existierte, dann
hatten sie sich etwas dabei gedacht, den Menschen eine festgelegte
Lebensspanne zu gewähren.
»Würdest du ihn bitte rufen?«, bat er. »Blanche?«
»Ja. Ich möchte mit ihm reden.« Andrej hob rasch die Hand. »Keine Sorge. Ich möchte einfach nur mit ihm sprechen. Herausfinden,
was für ein Mensch er ist.«
Marias Blick machte
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