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Die blutige Sonne

Die blutige Sonne

Titel: Die blutige Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Zimmer Bradley
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Hauch eines Parfums. Eine leise, wohllautende Stimme, die ein altes Lied sang. Kerwin erkannte voller Aufregung, daß es die Stimme seiner Mutter war. Cleindori, Dorilys von Arilinn, die abtrünnige Bewahrerin, sang ein Wiegenlied für das Kind, das nie hätte geboren werden dürfen.
    In einen Pelzmantel gewickelt, wurde er in den Armen eines Mannes mit flammend rotem Haar durch lange Gänge getragen. Es war nicht das Gesicht von Jefferson Kerwin, das ihm von Bildern her, die er auf Terra gesehen hatte, vertraut war. In einer versteckten Ecke seines Geistes, die sein erwachsenes Selbst beherbergte, wußte Kerwin jedoch, daß er in das Gesicht seines Vaters sah. Aber wessen Sohn bin ich dann? Er erhaschte einen kurzen Blick auf das Gesicht eines jüngeren Kennard ohne Falten, ein fröhliches und sorgloses Gesicht. Andere Bilder kamen und gingen. Er sah sich selbst mit zwei kleineren Kindern in einem gepflasterten Hof unter blühenden Pflanzen und Büschen spielen. Die beiden Jungen waren sich ähnlich wie Zwillinge, nur daß der eine das rote Haar ihrer Kaste und der andere dunkles Haar und einen dunklen Teint hatte. Und dann war da ein großer, stämmiger Mann in seltsamer dunkler Kleidung, der mit einem fremdartigen Akzent zu ihnen sprach und sie alle mit rauher Freundlichkeit behandelte. Die Zwillinge nannten ihn Vater, und Jeff redete ihn mit einem diesem Wort sehr ähnlichen Ausdruck an. In der Bergsprache bedeutete es Pflegevater oder Onkel, wie er auch zu Kennard sagte. Der erwachsene Jeff Kerwin spürte, daß sich die Haare auf seinem Kopf zu Berge stellten. Er sah in das Gesicht des Mannes, dessen Namen er trug. Er glich den Bildern im Haushalt seiner Großeltern nicht, aber er war der ältere Jeff Kerwin. Nebelhafter waren die Erinnerungen an die Frau, deren helles Haar eher blond als kupferfarben war, und an eine andere Frau mit dunklem Haar, das in der Sonne rote Glanzlichter zeigte, und an die Berge hinter der Burg, eine scharfzähnige Kette, und einen alten hohen Turm …
    Aber das ist ja Burg Ardais, das ist mein Zuhause … Wie bist du dorthin gekommen, Jeff? Kennard und mein Halbbruder Dyan waren Bredin, sie waren in ihrer Kinderzeit viel zusammen … Dann bist du in den Hellers aufgewachsen? Und das ist die Mauer von Burg Storn …
    Wieso bist du in den Hellers aufgewachsen, jenseits der Sieben Domänen? Hat Cleindori dort Zuflucht gesucht, als sie aus dem Turm geflohen war? Ich möchte wissen, was mein Bruder Dyan darüber weiß! Oder lag es nur daran, daß mein Vater verrückt war und sie nicht alle betrügen konnte?
    Die Erinnerungen gingen weiter. Kerwin stockte der Atem in der Kehle. Er merkte, daß er sich dem kritischen Punkt näherte. Er hörte sein eigenes Blut in den Ohren hämmern. Plötzlich flammte blaues Licht auf. Eine Frau stand vor ihm, eine hochgewachsene Frau, schlank und jugendlich, aber nicht mehr jung. Er wußte, er sah seine Mutter. Warum war er bis zu diesem Augenblick nicht fähig gewesen, sich an ihr Gesicht zu erinnern? Sie trug ein merkwürdig geschnittenes, karminrotes Gewand, die Robe, die Elorie für immer beiseite geworfen hatte, die Zeremonienrobe einer Bewahrerin von Arilinn. Während er die Frau betrachtete, fiel das Gewand in Fetzen und verschwand, und nun stand sie vor ihm in den Kleidern, die sie alltags trug, einem karierten Rock und der weißen, mit Schmetterlingen bestickten Bluse. Er erinnerte sich sogar noch an die Beschaffenheit des Stoffes.
    Warum sah Elorie sie nicht? »Mutter«, flüsterte er, »ich dachte, du seist tot.« Und er erkannte seine Stimme als die eines Kindes. Und dann wurde ihm klar, daß sie nicht da war, daß er nur ihr Abbild sah, das Abbild einer viele, viele Jahre toten Frau, und die Tränen würgten ihn in der Kehle, Tränen, die er damals nicht hatte vergießen können.
    Meine Mutter. Und sie starb einen entsetzlichen Tod, ermordet von Fanatikern …
    Und doch hörte er ihre Stimme, sorgenvoll, verzweifelt, außer sich vor Schmerz.
    Wie kann ich meinem Kind das antun? Mein Sohn, mein Kleiner, er ist zu jung, solch eine Bürde zu tragen, zu jung für die Matrix, und doch … Zweimal bin ich knapp dem Tod entronnen, und früher oder später werden sie mich finden und umbringen, diese Fanatiker, die die Jungfräulichkeit einer Bewahrerin für wichtiger halten als ihre Fähigkeiten! Und dabei habe ich ihnen gezeigt, was ich tun kann …
    Und eine zweite Stimme, die tiefe, sanfte Stimme eines Mannes, klang in seinen Gedanken auf: Hast du

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