Die blutige Sonne
von Arilinn irgend etwas anderes erwartet, meine Cleindori? Und durch die Erinnerung und die Wahrnehmung seiner Mutter sah Kerwin – als Kind und als Mann in einer seltsamen doppelten Vision – das Gesicht des Sprechers. Er war ein alter Mann, vom Alter gebeugt, mit einem abgeklärten, gelehrtenhaften Gesicht und silbergrauem Haar. Seine Augen blickten gütig aber verbittert. Sie warfen Callista fort, obwohl ich ihnen dasselbe bewies, was du ihnen zu beweisen versuchtest.
Vater, sind alle Leute von Arilinn solche Toren? Das war ein verzweifelter Aufschrei. Sieh, hier ist mein Sohn, nach dir genannt, Damon Aillard, und sie werden sich nicht damit zufrieden geben, mich und Lewis und Cassilde zu töten. Sie werden auch Jeff und Andres und Kennard und alle übrigen von uns umbringen, bis hinunter zu Cassildes kleinen Jungen und der Tochter, die sie Jeff diesen Sommer gebären wird! Vater, Vater, was kann ich tun? Habe ich den Tod über sie alle gebracht? Ich habe nie etwas Böses im Sinn gehabt, ich wollte ihnen neue Gesetze geben, ich wollte die alten grausamen Gesetze von Arilinn abschaffen, damit die Frauen dort glücklich leben können, damit sich Männer und Frauen in Arilinn nicht länger einem lebenden Tod überantworten müssen. Und sie wollten nicht auf mich hören, obwohl die Bewahrerin von Arilinn sprach! Das Gesetz von Arilinn ist, daß das Wort der Bewahrerin Gesetz ist. Doch als ich ihnen diese neuen Freiheiten schenken wollte, hörten sie nicht auf mich. Sie verfolgten mich und Lewis, bis wir flohen … Vater, Vater, wie konnte ich mich so irren? Und jetzt haben sie den Vater meines Sohns getötet, und ich weiß, sie werden nicht aufhören, bis ihnen das letzte Kind des Verbotenen Turms zum Opfer gefallen ist! Gibt es denn keinen Weg, daß ich sie retten kann?
Für einen flüchtigen Augenblick teilte Kerwin die Gedanken Damon Ridenows. Sie alle, jeder einzelne, der innerhalb der Wände des Verbotenen Turms, wie sie ihn herausfordernd immer noch nannten, gearbeitet hatte, stand unter einem Todesurteil. Früher oder später würde das Schicksal jeden ereilen.
Kerwin spürte die Verzweiflung, mit der Damon sprach.
Es gibt keinen Weg, mit Fanatikern vernünftig zu reden, Cleindori. Vernunft und Recht sagen dir, daß eine Bewahrerin nur ihrem eigenen Gewissen verantwortlich ist. Aber jene sind immun gegen Vernunft und Recht. Für sie bist du keine Matrix-Arbeiterin. Sie wollen dich nicht in deiner Eigenschaft als Matrix-Arbeiterin zur Bewahrerin haben. Was sie in Arilinn wollen, ist eine sakrosankte Jungfrau, ein Opfer ihrer eigenen Schuldgefühle und Ängste. Das Wort der Vernunft hat kein Gewicht gegenüber Fanatikern und blindem Aberglauben, Cleindori.
Vater, du hast mich im Glauben an die Vernunft erzogen!
Ich habe unrecht daran getan. Oh, mein Liebling, ich habe unrecht daran getan .
Und dann vernahm Kerwin Cleindoris Entschluß.
Ich könnte mich hier für immer verstecken und sicher sein oder bei den Terranern leben. Aber wenn ich sterben muß – und ich weiß jetzt, daß es mich früher oder später treffen wird –, dann will ich nach Thendara gehen und andere in der Kunst unterrichten, von der ich festgestellt habe, daß sie erlernt werden kann. Sollen sie mich töten! Sie können nicht für immer geheimhalten, was ich erfahren und was ich gelehrt habe. Es wird Matrix-Arbeiter außerhalb des Turms geben. Eines Tages wird der Arilinn-Turm, der blind gegen Gerechtigkeit und Recht und Wahrheit ist und die Männer und Frauen, die dort arbeiten, zu einem lebenden Tod zwingt, unter seinem Haß zusammenbrechen. Und dann werden andere Menschen da sein, so daß die alten Matrix-Wissenschaften von Darkover weiterleben werden. Sag mir Lebewohl, Vater, und segne meinen Sohn. Denn ich weiß jetzt, daß wir uns niemals wiedersehen werden.
Sie werden dich töten, Cleindori. Oh, meine Tochter, meine Tochter, meine goldene Glocke, muß ich auch dich verlieren?
Früher oder später müssen alle Menschen sterben. Segne mich, Vater, und segne meinen Sohn .
Mit diesem seltsam aufgespaltenen Doppelbewußtsein spürte Kerwin Damons Hand auf seinem Kopf. Nimm meinen Segen, Liebling. Und du auch, mein Kleiner, in dem mein Name und meine eigene Kindheit wiedergeboren sind . Und dann ging das Bewußtsein in der Qual des letzten Lebewohls zwischen Vater und Tochter unter.
Im Nacherleben seiner Erinnerung strömten Kerwin die Tränen über das Gesicht. Die Matrix hielt ihn gefangen. Die Erinnerung hielt ihn
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