Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die blutige Sonne

Die blutige Sonne

Titel: Die blutige Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Zimmer Bradley
Vom Netzwerk:
Kerwin, der beim Anblick der vielen Menschen zuerst erschrocken war, erkannte schnell, daß niemand ihm die geringste Aufmerksamkeit zollte. Langsam und unauffällig schlängelte er sich durch die Menge und brachte es fertig, sich der Gruppe von Darkovanern anzuschließen. Niemand beachtete ihn. Kerwin nahm an, daß sie eine offizielle Delegation aus der Stadt waren, eins der Komitees, das bei der Verwaltung der Handelsstadt mithalf. Die Darkovaner bildeten eine zufällige Strömung in der Masse. Sie verfolgten ihre eigene Richtung, und Kerwin, am Rand der Gruppe, ließ sich von der Strömung mittragen, auf die Straße, aus dem Hauptquartier, durch die Tore, die aus der Einzäunung hinausführten. Die Raumpolizisten, die dort Wache standen, streiften die Darkovaner – und Kerwin – nur mit ganz flüchtigen Blicken.
    Vor den Toren bildeten sich kleine Gruppen von zweien und dreien, die stehenblieben und sich unterhielten. Einer der Männer merkte, daß ihm Kerwin fremd war, und sah ihn höflich fragend an. Kerwin murmelte eine übliche Phrase, wandte sich schnell ab und schritt aufs Geratewohl in eine Nebenstraße.
     
    Die Altstadt lag bereits in Dunkelheit. Der Wind blies frostig, und Kerwin erschauerte ein bißchen trotz des warmen Mantels. Wohin ging er überhaupt?
    Er zögerte an der Straßenecke, wo er einmal in dem Restaurant dort Ragan zu einer Erklärung hatte zwingen wollen. Sollte er das Lokal betreten und nachsehen, ob der kleine Mann anwesend war und ihm nützlich sein konnte?
    Wieder kam das klare, unmißverständliche Nein von seinem inneren Führer. Ob er sich das alles nur einbildete? Nun, im Grunde kam es nicht darauf an, ob es so oder anders war, und jedenfalls hatten die wortlosen Winke ihn aus dem HQ hinausgeführt. Deshalb wollte er sich weiter danach richten. Er sah zum HQ-Gebäude hin, das von dem sich verdichtenden Nebel bereits halb ausgewischt war. Dann wandte er ihm den Rücken, und es war, als werfe er im Geist eine Tür hinter sich zu. Das war das Ende dieses Lebensabschnitts. Er hatte sich losgerissen, und er wollte nicht wieder zurückblicken.
    Mit dieser Entscheidung senkte sich ein seltsamer Friede auf ihn herab. Er verließ die ihm bekannten Straßen und entfernte sich schnell aus dem Gebiet der Handelsstadt.
    Noch nie war er so weit in die Altstadt eingedrungen, nicht einmal an dem Tag, als er die alte Matrix-Mechanikerin aufgesucht hatte, an dem Tag, der mit ihrem Tod endete. Hier unten waren die Häuser alt, aus diesem schweren, durchscheinenden Stein erbaut, der im Wind eiskalt wurde. Zu dieser Stunde waren nur wenige Leute auf den Straßen, hin und wieder ein einsamer Wanderer, ein Arbeiter in einer der billigen importierten Kletterwesten, der sich mit gesenktem Kopf gegen den Wind vorankämpfte, einmal eine Frau in einer verhängten Sänfte, von vier Männern auf den Schultern getragen, einmal, geräuschlos im Lee eines Gebäudes dahingleitend, ein Nichtmensch, der ihn mit unbeabsichtigter Bosheit musterte.
    Eine Schar von Straßenjungen in zerlumpten Kitteln und barfuß näherte sich ihm, als wollten sie ihn um ein Almosen anbetteln. Plötzlich zogen sie sich zurück, tuschelten miteinander und rannten davon. Lag das an dem zeremoniellen Mantel oder an dem roten Haar, das sie unter der Kapuze erkennen konnten?
    Der wogende Nebel verdichtete sich. Nun begann Schnee zu fallen, in weichen, dichten, schweren Flocken. Kerwin merkte schnell, daß er sich in den unbekannten Straßen hoffnungslos verlaufen hatte. Er war aufs Geratewohl dahinmarschiert, war mit diesem seltsamen, beinahe traumgleichen Gefühl, daß es nicht darauf ankam, welchen Weg er nahm, impulsiv um Ecken gebogen. Jetzt blieb er auf einem großen, offenen Platz stehen. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, wohin er geraten war, schüttelte den Kopf und kam wieder zu Bewußtsein.
    Guter Gott, wo bin ich? Und wohin gehe ich? Ich kann nicht die ganze Nacht in einem Schneesturm umherlaufen, selbst wenn ich über meiner Uniform einen darkovanischen Mantel trage! Ich hätte damit beginnen sollen, mir einen Platz zu suchen, wo ich mich eine Weile verstecken kann, oder die Stadt ganz zu verlassen, bevor ich vermißt werde!
    Benommen hielt er Umschau. Vielleicht sollte er versuchen, zum HQ zurückzufinden, und die Strafe, die man ihm zudiktierte, auf sich nehmen. Nein. Am Ende dieses Weges lag das Exil, und diese Frage hatte er bereits entschieden. Aber die merkwürdige Stimme, die ihn auf dem ganzen Weg geführt hatte, war

Weitere Kostenlose Bücher