Die Blutlinie
weiter auf meine Hände.
»Sie und Ihre Kollegen, Sie bewachen Ihre Stärke wie einen Talisman. Sie verhalten sich, als wären Ihre Vorräte begrenzt. Wie Samson und sein Haar. Sie scheinen zu denken, wenn Sie hier drin schwach werden und sich öffnen, wirklich öffnen, dann verlieren Sie all Ihre Stärke und bekommen sie niemals zurück.« Er schweigt erneut, diesmal für eine ziemlich lange Weile. Ich fühle mich leer und trostlos. »Ich arbeite nun seit einer Reihe von Jahren in diesem Beruf, Smoky, und Sie sind eine der stärksten Persönlichkeiten, denen ich je begegnet bin. Ich kann mit nahezu absoluter Sicherheit sagen, dass keine der Personen, die ich in der Vergangenheit behandelt habe, imstande gewesen wäre, das zu ertragen, was Sie ertragen mussten und immer noch ertragen. Nicht eine von ihnen.«
Es gelingt mir, den Blick zu heben und ihn anzusehen. Ich frage mich, ob er sich über mich lustig macht. Stark? Ich fühle mich nicht stark. Ich fühle mich schwach. Ich kann nicht einmal mehr meine Pistole halten. Ich sehe ihn an, er sieht zurück. – Es ist ein unerschrockener Blick, und als ich ihn erkenne, durchzuckt mich ein Schock. Ich habe blutbesudelte Verbrechensschauplätze mit diesem Blick betrachtet. Verstümmelte Leichen. Ich bin imstande, derartig Entsetzliches anzusehen, ohne den Blick abzuwenden. Dr. Hillstead betrachtet mich mit dem gleichen Blick, und mir wird bewusst, dass dies seine Begabung ist: Er ist imstande, das Entsetzen der Seele mit einem steten, unerschrockenen Blick zu ertragen. Ich bin sein Verbrechensschauplatz, und er wendet sich nicht angewidert oder distanziert ab.
»Doch ich weiß auch, dass Sie dicht vor der Grenze dessen stehen, was Sie zu ertragen imstande sind, Smoky. Und das bedeutet, ich kann eines von zwei Dingen tun. Ich kann zusehen, wie Sie zerbrechen, oder ich zwinge Sie, sich zu öffnen und meine Hilfe anzunehmen. Ich habe mich für Letzteres entschieden.«
Ich spüre die Aufrichtigkeit in seinen Worten, die Ernsthaftigkeit. Ich habe Hunderte verlogener Krimineller angesehen. Ich bilde mir ein, dass ich eine Lüge selbst im Schlaf durchschauen würde. Er sagt die Wahrheit. Er will mir helfen.
»So. Jetzt ist der Ball auf Ihrer Seite des Spielfelds. Sie können aufstehen und gehen, oder wir können von hier an weitermachen.« Er lächelt mich an, ein müdes Lächeln. »Ich kann Ihnen helfen, Smoky, ich kann es wirklich. Ich kann nicht ungeschehen machen, was passiert ist. Ich kann Ihnen nicht versprechen, dass Sie nicht für den Rest Ihres Lebens unter dem Schmerz leiden. Doch ich kann Ihnen helfen. Wenn Sie mich lassen.«
Ich starre meinen Therapeuten an, und ich spüre den Widerstreit in mir. Er hat Recht. Ich bin ein weiblicher Samson, und er ist eine männliche Delila, nur dass er mir erzählt, es würde nicht wehtun, wenn ich mir die Haare schneide. Er bittet mich, ihm auf eine Weise zu vertrauen, wie ich niemandem vertraue. Außer mir selbst.
»Und?«, höre ich die leise Stimme in mir selbst fragen. Ich schließe zur Antwort die Augen. Ja. Und Matt.
»Okay, Dr. Hillstead. Sie haben gewonnen. Ich versuche es.«
In dem Moment, in dem ich es sage, weiß ich, dass es richtig ist, denn ich höre auf zu zittern.
Ich frage mich, ob das, was er zu mir gesagt hat, die Wahrheit ist. Was meine Stärke angeht, meine ich. Bin ich stark genug weiterzuleben?
KAPITEL 4
Ich stehe vor der Fassade der FBI-Büros in Wilshire, Los Angeles. Ich blicke an der Fassade hoch und versuche, etwas dabei zu empfinden.
Nichts.
Dies ist kein Ort, wo ich im Moment hingehöre. Stattdessen habe ich das Gefühl, abgeschätzt zu werden. Die Fassade blickt stirnrunzelnd auf mich herab mit ihrem Gesicht aus Beton, Glas und Stahl. Nehmen es Zivilisten so wahr?, frage ich mich. Als etwas Imposantes und vielleicht ein wenig Hungriges?
Ich bemerke mein Spiegelbild im Glas der Eingangstüren und winde mich innerlich. Ich wollte einen Anzug tragen, doch es hätte sich zu sehr nach Verpflichtung zum Erfolg angefühlt. Sportsachen wären zu lässig gewesen. Als Hinweis auf meine Unentschiedenheit hatte ich mich für Jeans und eine Buttondown-Bluse entschieden, einfache Halbschuhe und ein leichtes Make-up. Und jetzt fühlt sich alles unpassend an, und am liebsten würde ich rennen, rennen, rennen.
Emotionen überrollen mich in Wellen, in brechenden, krachenden Wellen. Angst, Aufregung, Zorn, Hoffnung.
Dr. Hillstead hat unsere Sitzung mit einer Aufgabe beendet. Gehen Sie, und besuchen
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