Die Blutlinie
geht, was diese Ungeheuer antreibt.
Er nickt vor sich hin und blickt schließlich auf. Lehnt sich in seinem Bürostuhl zurück. »Sie und ich, wir haben schon häufiger zusammengearbeitet, Smoky. Also wissen Sie, dass ich die Neigung besitze, so zu tun als ob. Genau das gedenke ich auch jetzt zu tun. Haben Sie etwas dagegen?«
»Nicht das Geringste, Doc. Schießen Sie los.«
Er legt die Fingerspitzen unter dem Kinn zusammen. »Ich werde so tun, als handelte es sich hier um ein einzelnes Individuum. Die hinter Jack Junior stehende Person ist unser Primärziel und die dominante Persönlichkeit. Stimmen Sie mir darin zu?«
Ich nicke.
»Gut. Es gibt zwei Möglichkeiten. Die erste ist, fürchte ich, eher unwahrscheinlich. Dass er nur so tut. Dass seine Behauptung, ein Nachfahre von Jack the Ripper zu sein, Teil eines Rollenspiels ist und Sie auf eine falsche Fährte lenken soll. Ich halte diese Sicht der Dinge für abwegig und glaube nicht, dass sie uns weiterhilft.
Die zweite Möglichkeit ist wahrscheinlicher und obendrein höchst ungewöhnlich. Wir haben es hier mit einem Fall von Erziehung gegen die Natur zu tun. Einer Art Langzeit-Gehirnwäsche. Irgendjemand hat eine lange Zeit damit verbracht, unserem Jack Junior die Identität einzuprägen, die er nun angenommen hat. Meiner Meinung nach muss man damit bereits in sehr jungem Alter begonnen haben, um so erfolgreich zu sein. Es wäre möglich, dass einer oder beide Elternteile dies getan haben.
Unsere bisherigen Erkenntnisse zeigen, dass die meisten Serienmörder eine sehr ähnliche Vergangenheit aufweisen. Üblicherweise gehört dazu Missbrauch in früher Kindheit. Dabei kann es sich um Misshandlungen oder um sexuellen Missbrauch handeln; in der Regel ist es beides. Das Resultat ist Wut, eine rasende Wut, und die Missbrauchten sind nicht imstande, diese Wut gegen die Täter zu richten, die größer und stärker sind als sie und in einer Position der emotionalen Autorität und des Vertrauens. Der Täter ist fast immer der Vater oder die Mutter. Die missbrauchte Person liebt diesen Täter und ist im Innern davon überzeugt, dass der Missbrauch auf irgendeine Weise gerechtfertigt ist. Verursacht durch irgendetwas, das sie falsch gemacht hat.
Wut benötigt ein Ventil. Ohne ein konkretes Ziel wird sie von den Opfern beinahe zwangsläufig auf dreierlei Art umgelenkt. Zunächst in Form von Gewalt gegen sich selbst; dazu gehört chronisches Bettnässen. Dann durch Gewalt gegen die Umwelt, etwa durch das Legen kleiner Brände. Und schließlich, in einer eskalierenden Gewaltspirale, die mit Übergriffen auf schwächere Lebewesen beginnt – meist auf kleinere Tiere, die gequält und getötet werden. Sobald die Missbrauchten selbst erwachsen sind, tun sie dasselbe dann logischerweise auch Menschen an.
Dies ist natürlich eine starke Vereinfachung. Menschen sind keine Roboter, und kein Verstand funktioniert wie der andere. Nicht alle Opfer nässen ins Bett oder töten kleine Tiere. Der Missbrauch wird nicht immer vom Vater oder von der Mutter begangen. Insgesamt jedoch trifft, wie unsere Erfahrungen zeigen, dieses vereinfachende Grundmuster zu.«
Er lehnt sich zurück und sieht mich an.
»Es gibt allerdings Ausnahmen, Smoky. Sie sind selten, doch es gibt sie. Sie dienen denjenigen als Argument, die glauben, dass die menschliche Natur die Erklärung für alles liefert. Mörder, die aus anständigen Umfeldern kommen und anständige Eltern hatten. Schlechte Anlagen, ohne erkennbaren Grund für das, was sie tun.« Dr. Child schüttelt den Kopf. »Warum muss es entweder das eine oder das andere sein? Ich war – wie viele andere auch – stets der Meinung, dass beides die Ursache bilden kann. Natur und Erziehung. Dabei ist die Erziehung, wie ich bereits sagte, die am häufigsten zu beobachtende Ursache.« Er klopft auf den Bericht, der vor ihm liegt. »In diesem Fall hier gibt es zahlreiche Abweichungen. Er sagt, er sei weder misshandelt noch sexuell missbraucht worden. Er hat seinen Worten gemäß weder kleine Tiere gefoltert oder getötet noch Brände gelegt. Möglich, dass er lügt. Vielleicht will er es selbst auch nicht wahrhaben. Doch falls es stimmt, dann stellt er etwas Neues dar. Einen Serienmörder vom Reißbrett sozusagen. Jemand, dem so stark und über so lange Zeit ein Glaubenssystem infiltriert wurde, dass es für ihn zur absoluten Wahrheit wurde. Falls dies zutrifft, dann haben wir es hier mit einem extrem gefährlichen Täter zu tun. Er trägt keine alten,
Weitere Kostenlose Bücher