Die Blutlinie
gesehen hat und niemand benennen kann, in der Hand. Er macht Anstalten, mit dem Sporn am Ende des Griffs über Callies Fußsohlen zu fahren, und blickt Callie fragend an. »Sind Sie bereit?«
Elaina greift ihre Hand auf einer Seite des Bettes, ich nehme ihre Hand auf der anderen. Marilyn steht links von Elaina. Bonnie sieht den Arzt an, und auf ihrem Gesicht steht Sorge.
»Na los, kitzeln Sie mich, Zuckerschnäuzchen.«
Er fährt mit dem Sporn über ihre linke Fußsohle. Sieht sie fragend an. »Haben Sie das gespürt?«
Ihre Augen weiten sich angstvoll. Ihre Stimme ist ganz leise. »Nein.«
»Keine Panik«, versucht er sie zu beruhigen. Ich spüre, dass es nicht funktioniert, weil ihre Hand die meine zu zerquetschen droht. »Probieren wir den anderen Fuß.« Er fährt mit dem Sporn über die Sohle. Wir warten …
Und dann ein Zucken. Der große Zeh bewegt sich. Callie hält den Atem an.
»Haben Sie das gespürt?«, fragt der Arzt erneut.
»Ich bin mir nicht sicher …«
»Das macht nichts. Dass sich der große Zeh bewegt hat, ist ein sehr gutes Zeichen. Probieren wir es erneut.« Er streicht einmal mehr mit dem Sporn über ihre Fußsohle. Diesmal zuckt der Zeh sofort.
»Ich … ich habe es gespürt!«, ruft Callie. »Nicht viel – aber ich hab’s gespürt!«
»Das ist sehr, sehr gut, Callie. Ganz ausgezeichnet«, sagt der Arzt aufmunternd. »Und jetzt möchte ich, dass Sie etwas anderes für mich ausprobieren. Ich möchte, dass Sie versuchen, diesen Zeh zu bewegen – den Zeh, der gezuckt hat.«
Callies Hände schwitzen. Ich spüre ein beinahe unmerkliches Zittern.
»Los, versuch’s«, gurrt Elaina. »Probier’s aus. Ich weiß, dass du es schaffen kannst.«
Callie starrt auf ihren großen Zeh, und sie konzentriert sich mit einer Intensität, die kaum ein olympischer Springer aufzubringen vermöchte. Ich spüre ihre mentale Anstrengung geradezu körperlich.
Der Zeh bewegt sich.
»Ich hab etwas gespürt!«, schreit Callie aufgeregt. »Ich hab meinen Zeh gespürt!«
Der Arzt lächelt. Es ist ein breites, zufriedenes Lächeln. Keiner von uns hat sich bisher erlaubt, erleichtert durchzuatmen, doch ich spüre, dass die Chancen steigen. Wir müssen die Worte aus seinem Mund hören.
»Ja«, meint er schließlich. »Das ist gut. Das ist sogar ganz ausgezeichnet. Die Wahrscheinlichkeit, dass Sie eine Behinderung zurückbehalten, ist äußerst gering. Und wenn, dann ließe sich das vermutlich mit einer Physiotherapie beheben. Also machen Sie sich keine Sorgen, wenn Sie anfänglich mit Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Dann müssten wir lediglich Ihren Körper neu trainieren, damit er die vom Gehirn an die Beine ausgesendeten Signale wieder zu verarbeiten lernt.« Nach einer kurzen Pause setzt er hinzu: »Ich glaube kaum, dass Sie eine Lähmung zurückbehalten werden.«
Callies Kopf sinkt auf das Kissen zurück, und sie schließt die Augen. Der Raum ist erfüllt von laut gemurmelten Stoßseufzern. Es ist ein Hurrikan der Erleichterung.
Dann verstummen wir alle. Weil wir ein Weinen hören.
Es ist das Geräusch von etwas Schrecklichem, Furchtbarem, Verkrüppeltem, das endlich nach draußen dringt, voller Qual. Wir drehen uns alle nach der Quelle dieses Geräusches um.
Es ist die kleine Bonnie.
Sie lehnt an der Tür von Callies Zimmer, das Gesicht hochrot. Tränen schießen ihr aus den Augen, und sie hat die Faust gegen den Mund gepresst in dem Versuch, einen Vulkan aus Trauer zurückzuhalten, der nach Freisetzung verlangt.
Diese Eruption macht mich sprachlos. Ich fühle mich, als hätte jemand mein Herz mit einer Rasierklinge zerteilt.
Von uns allen ist Bonnie diejenige, die am meisten um Callie gefürchtet hat, und diese Tatsache macht ihre Trauer umso überwältigender. Das, und mein Begreifen. Wäre Callie gelähmt geblieben, hätte er in Bonnies Augen doch noch gewonnen. Sie weint um ihre Mutter, um mich, um Elaina, um Callie und um sich selbst.
Callies Stimme durchdringt den Raum, ein sanfter Pfeil. »Komm her, Zuckerschnäuzchen«, sagt sie mit einer Zärtlichkeit, die mir die Knie weich werden lässt.
Bonnie stürzt zu ihr ans Bett. Sie nimmt Callies Hand, schließt die Augen und weint gegen diese Hand, während sie die Wange an den Knöcheln reibt, wieder und immer wieder. Sie ist unendlich froh, dass Callie lebt, und sie weint um den Verlust ihrer eigenen Welt, alles zur gleichen Zeit.
Callie murmelt auf sie ein, flüsternd, während wir anderen betroffen schweigen.
Callie hat mich
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