Die Blutlinie
hin. Sie zwinkert mir zu. Wieder einmal fällt mir auf, wie unglaublich freundlich Fremde manchmal sein können.
Die Rückfahrt ist unterhaltsam. Callie giftet leise vor sich hin. Ich nicke und versichere ihr an den richtigen Stellen meine Zustimmung, während sie über »alte Schachteln« und »runzlige, vertrocknete Leute« und »aufgeblasene Mumien« schimpft. Währenddessen sind meine Gedanken erfüllt von jenem traurigen Blick, der so fremd auf dem Gesicht meiner Freundin wirkt.
Wir erreichen den Parkplatz und halten in der Nähe meines Wagens. Ich habe beschlossen, dass es genug ist für heute. Ich besuche den stellvertretenden Direktor ein anderes Mal.
»Danke, Callie. Sag Alan, dass ich irgendwann in nächster Zeit noch mal vorbeikomme. Auch wenn es nur darum geht, ›Hallo‹ zu sagen.«
Sie droht mir mit dem Finger. »Das werde ich ihm ausrichten, Zuckerschnäuzchen. Aber wag es bloß nicht mehr, unsere Anrufe zu ignorieren. Du hast in jener Nacht nicht jeden verloren, der dich liebt. Und du hast Freunde, auch außerhalb der Arbeit. Vergiss das nicht!«
Sie fährt mit quietschenden Reifen los, bevor ich antworten kann, und sichert sich so das letzte Wort. Das ist typisch Callie, und ich bin froh, dass ich ihr Opfer gewesen bin.
Ich steige in meinen Wagen, und mir wird bewusst, dass ich Recht gehabt habe letzte Nacht. Heute war der entscheidende Tag. Und ich fahre nicht nach Hause, um mir das Gehirn aus dem Kopf zu blasen. Wie sollte ich das auch? Ich schaffe es ja nicht mal, meine Pistole in die Hand zu nehmen.
KAPITEL 8
Ich habe eine furchtbare Nacht, eine Art Hitparade schlimmer Träume. Joseph Sands ist da mit seinem Dämonenanzug, während Matt mich mit blutverschmiertem Mund anlächelt. Dann sehe ich Callie im Subway-Imbiss. Sie blickt traurig von ihrem Blatt Papier auf, zieht die Pistole und schießt der fremden Frau in den Kopf. Dann wendet sie sich wieder ihrer Limonade zu und saugt am Strohhalm. Doch ihre Lippen sind zu rot und zu voll. Sie bemerkt meinen Blick und zwinkert mir zu wie eine Leiche, die ein einzelnes Auge schließt.
Ich wache zitternd auf und bemerke, dass mein Telefon läutet. Ich sehe auf die Uhr – es ist fünf Uhr morgens. Wer ruft um diese Stunde an? Ich habe keine Anrufe mehr um diese Zeit bekommen, seit ich nicht mehr arbeite.
Der Traum schwebt noch immer durch meinen Kopf, doch ich schiebe die Bilder von mir. Ich warte noch einen Moment, bis das Zittern verebbt ist, dann nehme ich den Hörer ab.
»Hallo?«
Schweigen am anderen Ende. Dann Callies Stimme. »Hi, Zuckerschnäuzchen. Tut mir Leid, dass ich dich wecke, aber … wir haben hier was, das dich betrifft.«
»Was? Was ist passiert?« Sie schweigt eine ganze Minute, und allmählich werde ich ungeduldig. Immer noch laufen kleine Schauer durch meinen Körper, während ich den Hörer halte. »Verdammt, Callie! Rede mit mir!«
Sie seufzt. »Erinnerst du dich an Annie King?«
»Ob ich mich an sie erinnere?«, frage ich ungläubig. »Ja, ich erinnere mich an sie. Sie ist eine meiner besten Freundinnen. Sie ist vor ungefähr fünf Jahren nach San Francisco umgezogen. Wir telefonieren noch alle sechs Monate oder so. Ich bin die Patentante ihrer Tochter. Ich erinnere mich also sehr gut an Annie. Warum? Was ist mit ihr?«
Callie schweigt erneut. »Verdammt«, höre ich sie flüstern. Es klingt, als hätte sie soeben einen Schlag in den Magen bekommen. »Ich wusste nicht, dass ihr Freundinnen wart. Ich dachte, sie wäre nur eine Bekannte von dir.«
Ich spüre, wie Angst in mir aufsteigt. Angst – und Gewissheit. Ich weiß, was passiert ist; oder wenigstens meine ich, es zu wissen. Doch ich muss es aus Callies Mund hören, bevor ich es glauben kann. »Was ist passiert?«, frage ich.
Ein langer, resignierender Seufzer. Dann: »Sie ist tot, Smoky. Ermordet, in ihrer Wohnung. Ihre Tochter lebt, aber sie ist katatonisch.«
Meine Hand ist durch den Schock gefühllos geworden, und fast lasse ich den Hörer fallen. »Wo bist du jetzt, Callie?« Meine Stimme klingt fremd in meinen Ohren.
»Im Büro. Wir machen uns fertig, um zum Tatort zu fliegen. Wir haben einen Privatjet, der in eineinhalb Stunden startet.«
Ich spüre etwas durch meinen Schock hindurch, eine Schwere auf Callies Seite der Leitung. Ich spüre, dass es noch etwas gibt, das sie mir bisher nicht gesagt hat.
»Was ist, Callie? Was hältst du vor mir zurück?«
Ein weiteres Zögern, ein weiterer Seufzer. »Der Mörder hat eine Nachricht für dich
Weitere Kostenlose Bücher