Die Blutlinie
dass ihr die Sache ein wenig peinlich war.
»Hey, ich hab eine Idee«, sagte ich. Es war eine Entscheidung aus dem Bauch heraus, unerklärlich, doch fraglos richtig. »Komm, wir verschwinden von hier. Wir machen für den Rest des Tages blau.«
Sie sah mich blinzelnd an. »Blaumachen?« ich nickte grinsend. »Genau. Nur für heute, nur für einen Tag. Ich schätze, du hast es verdient, oder?«
Vermutlich kam ihre Entscheidung genauso plötzlich und aus dem Bauch heraus wie meine Frage an sie. Schließlich kannte sie damals ja nicht mal meinen Namen. Sie lächelte zurück, ein verzagtes Lächeln.
»Okay.«
Und so lernten wir uns kennen. Sie rauchte an jenem Tag ihren ersten Joint (zu dem ich sie überredete), und etwa eine Woche später hörte sie bei den Cheerleadern auf.
Ich würde ja gern berichten, dass David Rayborn seine gerechte Strafe bekam, doch so war es nicht. Trotz seines Rufes als Arschloch fielen weiterhin Mädchen auf ihn herein, und er sammelte weiter ihre Höschen als Trophäen. Er wurde später Star-Quarterback in seiner College-Mannschaft und spielte sogar einige Saisons als Zweitbesetzung in einem Footballteam der Nationalmannschaft. Man könnte sagen, das sei der Beweis dafür, dass es keine Gerechtigkeit gibt auf der Welt; man könnte allerdings auch sagen, dass er Annie und mich zusammengebracht hat – eine Freundschaft, die mir so viel gab und so viel bedeutete, dass ich ihm fast verziehen hätte für das, was er getan hat.
Annie und ich wurden zu einer unzertrennlichen Einheit, wie dies nur bei Soldaten im Kampf und bei Teenagern in der Schule der Fall ist. Wir verbrachten unsere gesamte Freizeit zusammen. Sie beschwor mich, mit dem Haschischrauchen aufzuhören, und ich folgte ihrem Ratschlag, weil meine Noten schlechter geworden waren. Ich brachte sie dazu, sich wieder mit Jungs zu verabreden. Sie war für mich da, als mein Hund Buster, der mich seit meinem fünften Lebensjahr begleitete, eingeschläfert werden musste. Ich war für sie da, als ihre Großmutter starb. Wir lernten gemeinsam Auto fahren, gerieten gemeinsam in die verschiedensten Klemmen und befreiten uns gemeinsam daraus, wuchsen auf und wurden zu Frauen.
Annie und ich verband eine der intimsten Arten von Beziehung, die zwei Menschen haben können. Eine Freundschaft, während man vom Kind zum Erwachsenen reift. Das sind Erfahrungen und Erinnerungen, die einen das ganze Leben hindurch begleiten, bis ans Grab.
Was danach geschah, passiert immer wieder. Wir machten unseren Abschluss an der Highschool. Ich war damals bereits mit Matt zusammen. Annie hatte einen jungen Mann kennen gelernt und beschlossen, mit ihm durch das Land zu ziehen, bevor sie aufs College ging. Ich wartete nicht, sondern ging direkt zur UCLA. Wir taten, was alle in unserer Situation tun: Wir schworen uns, zweimal in der Woche miteinander zu telefonieren und unser Leben lang in Verbindung zu bleiben. Und dann taten wir, was alle tun, und wurden von unseren eigenen Leben so vollständig in Beschlag genommen, dass wir fast ein Jahr lang nicht mehr miteinander sprachen.
Eines Tages kam ich aus der Vorlesung … und da stand sie. Sie sah wild aus und wunderschön, und ich empfand Freude und Schmerz und einen sehnsüchtigen Stich, der mich durchzuckte wie ein Akkord von einer Gibson-Gitarre.
»Wie geht’s denn so, College-Girl?«, fragte sie mich mit verschmitztem Lächeln.
Statt ihr zu antworten, fiel ich ihr in die Arme und hielt sie eine Ewigkeit an mich gedrückt.
Wir gingen zusammen essen, und sie erzählte mir von ihren Abenteuern. Sie waren fast ohne Geld durch alle fünfzig Staaten gefahren, hatten eine Menge gesehen und erlebt und so viel Sex an so vielen unterschiedlichen Orten gehabt, dass es für den Rest des Lebens reichte. Sie lächelte geheimnisvoll, und dann legte sie die Hand auf den Tisch.
»Sieh mal«, sagte sie.
Ich sah hin, bemerkte den Verlobungsring und stieß einen überraschten Ruf aus, wie es von mir erwartet wurde, und dann kicherten wir beide und redeten über die Zukunft und über ihre Hochzeitspläne. Es war fast wie damals an der Highschool.
Ich war ihre Brautjungfer, und sie war meine. Sie zog mit Robert nach San Francisco, und Matt und ich blieben in Los Angeles. Die Dinge veränderten sich. Trotzdem gelang es uns, alle sechs bis acht Monate miteinander zu telefonieren, und immer wenn wir telefonierten, waren wir wieder zurück an jenem ersten Tag, an dem wir frei und jung und glücklich gewesen waren und die Schule
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