Die Blutlinie
drin?«
Das Schluchzen verstummte, auch wenn immer noch ein leises Schniefen zu hören war.
»Geh weg. Lass mich allein.«
Ich stand für eine Sekunde vor der Tür und überlegte, was ich tun sollte.
»Hast du dich verletzt?«
»Nein. Lass mich einfach nur allein!«
Da es offenbar keine physische Verletzung war, die dringend behandelt werden musste, beschloss ich, dem Wunsch der Unbekannten hinter der Tür zu entsprechen und zu gehen. Doch irgendetwas ließ mich innehalten. Das Schicksal. Ich beugte mich vorsichtig vor. »Äh, hör mal … kann ich dir irgendwie helfen?«
Die Stimme klang verzweifelt, als sie endlich antwortete. »Niemand kann mir helfen.« Schweigen, gefolgt von einem weiteren dieser furchtbaren, herzergreifenden Schluchzer. Niemand kann so weinen wie ein fünfzehnjähriges Mädchen. Niemand. Eine Fünfzehnjährige weint aus vollem Herzen, hält nichts zurück, als wäre es das Ende von allem.
»Komm schon. So schlimm kann es gar nicht sein.«
Ich hörte ein schlurfendes Geräusch, dann flog die Tür der Kabine krachend auf. Vor mir stand ein blondes, sehr hübsches Mädchen mit gerötetem Gesicht. Ich erkannte sie sofort und wünschte, ich wäre ihrem Rat gefolgt und gegangen, als sie mich bat zu verschwinden. Annie King, der Cheerleader. Eines von diesen Mädchen. Sie wissen schon, eines von diesen versnobten, perfekten Mädchen, die ihre Schönheit und ihre makellosen Körper einsetzen, um die Highschool wie ihr Königreich zu regieren. Ich konnte nicht anders, genau so dachte ich damals. Ich hatte sie in eine Schublade gestopft und fest eingeordnet, auf die gleiche Weise, wie ich es hasste, von anderen eingeordnet zu werden. Und sie war wütend.
»Was weißt du denn schon darüber?« Ihre Stimme bebte vor Zorn, und sie war gegen mich gerichtet, frontal.
Ich starrte sie an, sprachlos und verdutzt, zu erstaunt, um zurückzugiften. Dann zerbrach ihre Maske, und ihre Wut verpuffte schneller, als sie gekommen war. Tränen rannen ihr über das Gesicht. »Er hat allen mein Höschen gezeigt! Warum hat er das gemacht, nach allem, was er zu mir gesagt hat?«
»Hä? Wer – was ist mit deinem Höschen?«
Manchmal – selbst auf der Highschool – ist es am einfachsten, mit einem Fremden zu reden. Und sie redete mit mir, wir beide ganz allein auf der Mädchentoilette. Der Quarterback des Footballteams, ein gewisser David Rayborn, ging seit fast sechs Monaten mit ihr. Er war attraktiv, klug und schien sich wirklich etwas aus ihr zu machen. Er hatte sie seit Wochen bedrängt, »es« endlich mit ihm zu tun, und sie hatte seinem Drängen widerstanden. Aber er hatte so aufrichtig gewirkt und so zärtlich, dass sie vor ein paar Tagen doch nachgegeben hatte. Er war sanft gewesen und vorsichtig und liebevoll, und als es vorbei gewesen war, hatte er sie in den Armen gehalten und sie gefragt, ob er ihr Höschen behalten dürfte, als Erinnerung an dieses erste Mal. Er sagte, es würde ein Geheimnis zwischen ihnen beiden sein, etwas, das nur sie ganz allein miteinander teilten. Ein wenig unanständig, aber auch nett. Irgendwie romantisch. Wenn ich jetzt als Erwachsene daran zurückdenke, kommt es mir töricht vor, es so zu sehen. Doch wenn man fünfzehn ist …
»Heute bin ich nach dem Training vom Platz gegangen, und alle waren da. Die Jungs vom Team. David war bei ihnen, und alle zeigen auf mich und johlen und machen gemeine Gesichter. Und dann hat er es getan.« Sie verlor erneut die Fassung, und ich zuckte zusammen, weil mir klar war, wie es weiterging. »Er hat es in die Höhe gehalten. Mein Höschen. Wie eine Trophäe. Und dann hat er mich angegrinst, gezwinkert und gesagt, dass es das beste Stück wäre, das er bis jetzt in seiner Sammlung hätte.«
Und dann fing dieser Cheerleader wieder an zu weinen, nur, dass sie jetzt vollkommen in Tränen aufgelöst schien, im wahrsten Sinne des Wortes. Ihre Knie gaben nach, und sie fiel gegen mich und weinte und weinte, als wäre ihr Herz gebrochen und würde niemals wieder heilen. Ich zögerte einen Moment (nur einen Moment) und schlang die Arme um sie und hielt sie, während sie an meiner Schulter schluchzte. Dort in jener Toilette hielt ich diese Fremde an mich gedrückt und flüsterte ihr beruhigend in das Haar und sagte zu ihr, dass bestimmt alles wieder gut werden würde.
Nach einigen Minuten erstarben ihre Schluchzer nach und nach. Sie löste sich von mir und wischte sich über das Gesicht. Sie konnte mir nicht in die Augen sehen, und ich erkannte,
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