Die Blutlinie
hinterlassen, Zuckerschnäuzchen.«
Ich sitze da und schweige. Lasse die Worte auf mich wirken. »Ich komm zu dir ins Büro«, sage ich schließlich und lege auf, bevor Callie antworten kann.
Ich setze mich auf die Bettkante und verharre dort. Ich lege das Gesicht in die Hände und versuche zu weinen, doch meine Augen bleiben trocken. Irgendwie tut es auf diese Weise mehr weh.
Es ist gerade erst sechs Uhr, als ich im Büro eintreffe. Der frühe Morgen ist die beste Zeit, um durch Los Angeles zu fahren. Die einzige Tageszeit, zu der die Highways nicht verstopft sind. Die meisten Leute, die jetzt unterwegs sind, führen nichts Gutes im Schilde oder sind auf dem Weg zu nichts Gutem. Ich kenne diese frühen Morgenstunden gut. Auf dem Weg zu blutigen Tatorten bin ich zahllose Male durch den Nebel und das graue Licht der anbrechenden Dämmerung gefahren, genau wie jetzt. Auf dem ganzen Weg hierher habe ich an nichts anderes gedacht als an Annie. Annie und ich haben uns in der Highschool kennen gelernt, als wir beide fünfzehn waren. Sie war Cheerleader und ich ein unbekümmerter Wildfang, der Haschisch rauchte und die Geschwindigkeit liebte. Nach den Gesetzen der Highschool waren unsere Wege nicht dazu bestimmt, sich zu kreuzen. Das Schicksal griff jedoch ein. Zumindest habe ich immer geglaubt, dass es das Schicksal war.
Meine Periode kam mitten im Mathematikunterricht, und ich musste mich melden. Ich packte meine Tasche und stürzte aus der Tür in Richtung Toilette. Ich war hochrot im Gesicht, während ich durch den Korridor rannte und hoffte, dass mich niemand bemerkte. Ich bekam meine Periode erst seit acht Monaten, und die ganze Angelegenheit war mir noch immer jedes Mal unerträglich peinlich.
Ich spähte in die Toilette und sah erleichtert, dass sie verlassen war. Ich betrat eine der Kabinen und wollte mich gerade um mein Problem kümmern, als mich ein Schniefen erstarren ließ. Die Binde in der Hand, hielt ich den Atem an und lauschte. Das Schniefen wiederholte sich, nur dass es diesmal in ein leises Schluchzen überging. Irgendjemand weinte zwei Kabinen weiter.
Ich habe schon immer eine Schwäche für alles gehabt, was leidet. Als ich jünger war, überlegte ich sogar, Tierärztin zu werden. Wann immer ich einem verletzten Vogel, einem Hund, einer Katze oder irgendetwas Lebendigem begegnete, ob es nun kroch, lief oder flog, so nahm ich es stets mit nach Hause. Die meisten Tiere, die ich mitgebracht hatte, schafften es nicht. Manche aber überlebten und wurden gesund, und diese wenigen Siege reichten aus, um mich zu weiteren Einsammelaktionen zu motivieren. Meine Eltern fanden es zuerst süß. Nach dem zigsten Besuch beim Notfalltierarzt wich ihr Entzücken allerdings dem Ärger. Doch auch wenn sie sich ärgerten, sie haben mich nie von meinen Mutter-Theresa-artigen Bemühungen abgehalten.
Als ich älter wurde, stellte ich fest, dass sich meine Anteilnahme auch auf Menschen erstreckte. Wenn jemand verprügelt wurde, mischte ich mich zwar nicht ein und rettete ihn, doch hinterher konnte ich nicht anders – ich musste hingehen und sehen, wie es ihm ging. Ich hatte immer einen kleinen Erste-Hilfe-Beutel in der Tasche und verteilte im achten und neunten Schuljahr unzählige Pflaster und Verbände. Ich war kein Stück verlegen wegen dieses Bedürfnisses. Es war schon eigenartig: Ich schämte mich zu Tode, weil ich wegen meiner Periode mitten im Unterricht auf die Toilette musste, doch kein Spott der Welt, nicht einmal der Spitzname »Schwester Smoky«, konnte mich davon abhalten, anderen zu helfen. Nicht im Geringsten.
Ich weiß, dass es dieser Charakterzug ist, der mich letztlich zum FBI geführt hat. Die Entscheidung, nach der Ursache für den Schmerz zu suchen und die Kriminellen zu jagen, die es genießen, ihn anderen zuzufügen. Ich weiß auch, dass das, was ich im Lauf der Jahre gesehen habe, diese Einstellung etwas verändert hat. Ich wurde vorsichtiger mit meiner Fürsorglichkeit. Mir blieb gar nichts anderes übrig. Mein Team und ich wurden zu dem, was früher mein Erste-Hilfe-Beutel war, und aus den Verbänden wurden Handschellen und eine Gefängniszelle.
Und weil ich so war, legte ich, als ich jemanden in der Toilette weinen hörte, meine Binde hastig und fast nebenbei ein, sämtliche Peinlichkeit vergessend, zog meine Jeans wieder hoch und stürzte aus meiner Kabine. Vor der Toilettentür, hinter der das Schluchzen zu vernehmen war, blieb ich stehen.
Ȁh, hallo? Alles in Ordnung da
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