Die Blutlinie
Freundin lächelnd an. Dr. Hillstead hat mir gesagt, dass ich stark bin. Doch für mich war immer Callie meine heimliche Heldin, wenn es um Stärke ging. Meine krass daherredende Schutzheilige der Pietätlosigkeit. Ich schüttele den Kopf. »Ich bin gleich wieder da«, sage ich. »Ich muss mal zur Toilette.«
»Vergiss nicht, den Deckel runterzuklappen«, sagt sie.
Ich sehe es, als ich die Toilette verlasse, und was ich sehe, lässt mich stehen bleiben.
Callie hat mich noch nicht bemerkt. Ihre Aufmerksamkeit ist auf etwas in ihrer Hand gerichtet. Ich mache einen Schritt zur Seite, sodass der Eingang den Blick auf mich ein wenig verdeckt, und spähe in ihre Richtung.
Callie sieht traurig aus. Nicht einfach nur traurig, sondern verloren.
Ich habe Callie hochmütig, sanft, wütend, rachsüchtig, witzig erlebt, was auch immer, aber niemals traurig. Nie so wie jetzt. Und ich weiß irgendwie, dass es nichts mit mir zu tun hat.
Was auch immer sie in der Hand hält, es betrübt meine Heldin, und das schockiert mich. Ich bin sicher, dass es etwas Privates ist. Callie wird nicht wollen, dass ich sie so sehe. Sie mag vielleicht für alle Welt nur ein Gesicht haben, doch sie entscheidet, welchen Teil davon sie zeigt. Und sie hat beschlossen, mir diesen Teil nicht zu zeigen, was auch immer es ist. Ich gehe zur Toilette zurück. Zu meiner Überraschung ist eine der älteren Damen da. Sie wäscht sich die Hände und beobachtet mich im Spiegel. Ich erwidere ihren Blick und kaue an meinem Daumennagel, während ich nachdenke. Entscheide dich endlich!
»Ma’am«, sage ich. »Würden Sie mir vielleicht einen Gefallen tun?«
»Welchen denn, meine Liebe?«, fragt sie ohne Zögern.
»Meine Freundin draußen …«
»Sie meinen die Unhöfliche mit den schrecklichen Essmanieren?«
Schluck.
»Ja, Ma’am.«
»Was ist mit ihr?«
Ich zögere. »Sie … ich glaube, sie möchte im Augenblick für sich sein. Weil ich hier bin und sie allein am Tisch … Ich …«
»Sie möchten Ihre Freundin nicht in diesem Moment überraschen, ist es das?«
Ihr sofortiges und vollkommenes Begreifen lässt mich innehalten. Ich starre sie an. Stereotypen, denke ich erneut. So nutzlos. Ich hatte sie für eine kleinkarierte, selbstgerechte alte Frau gehalten. Jetzt begegnen mir freundliche Augen, Weisheit und ein feines Gespür für das Lächerliche. »Ja, Ma’am«, sage ich leise.
»Sie … sie ist immer so krass, aber sie hat das größte Herz, das ich kenne.«
Die Augen der Frau werden weich, und sie lächelt ein wunderschönes Lächeln. »Viele große Menschen haben mit den Händen gegessen, meine Liebe. Überlassen Sie alles mir. Warten Sie dreißig Sekunden, und dann kommen Sie zum Tisch.«
»Ich danke Ihnen«, sage ich. Ich meine es aufrichtig, und sie weiß es.
Sie verlässt die Toilette ohne ein weiteres Wort. Ich warte ein wenig länger als dreißig Sekunden, bevor ich ihr folge. Ich spähe um die Ecke und hebe die Augenbrauen. Die Frau steht vor unserem Tisch und redet mit erhobenem Zeigefinger auf Callie ein. Ich gehe zu ihnen.
»Manche Leute essen gern ungestört«, höre ich die fremde Frau sagen. Ihr Ton ist maßregelnd und scharf wie eine Waffe, wie eine olympische Disziplin. Die Sorte Ton, die einen eher beschämt als wütend macht. Meine Mom war Weltklasse in dieser Disziplin.
Callie blickt die Frau finster an. Ich kann die Sturmwolken sehen, die sich in ihr zusammenbrauen, und ich eile zu unserem Tisch. Die Frau erweist mir schließlich einen Gefallen; besser, wenn ich nicht warte, bis es zu einer heftigen Auseinandersetzung kommt.
»Callie …«, sage ich und lege ihr warnend die Hand auf die Schulter. »Wir sollten gehen.«
Sie starrt die Frau noch finsterer an, doch die Frau wirkt ungefähr so eingeschüchtert wie ein auf dem Rücken schlafender Hund an einem sonnigen Fleck.
»Callie«, sage ich erneut, drängender diesmal.
Sie sieht mich an, nickt, steht auf und setzt ihre Sonnenbrille mit einer arroganten Bewegung auf, die mich mit Bewunderung erfüllt. »9 – 9 – 10«, denke ich. Eine nahezu perfekte Wertung. Die Olympiade der Eisköniginnen ist dieses Jahr ein harter Wettkampf, und die Menge tobt …
»Ich kann gar nicht schnell genug weg von hier«, meint sie herablassend. Sie schnappt ihre Handtasche und neigt den Kopf in Richtung der Frau. »Guten Tag«, sagt sie. »Auf die Knie!«, bedeutet ihr Tonfall.
Ich schiebe sie hastig nach draußen und sehe über die Schulter noch einmal zu der fremden Frau
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